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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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»Eure Exzellenz, ich flehe Euch an, lasst meinen Bruder gehen, und ich werde Euer Sklave. Mein Bruder ist der Älteste, Euer Gnaden, der Vorstand unserer Familie. Meine Eltern sind alt und brauchen ihn. Ich bin stark und gesund. Aber wenn mein Bruder weiter im bagnio bleiben muss, hat er nicht mehr lange zu leben.«
    Mamí flüsterte angeregt mit einem Mann, der neben ihm saß. Ich durfte nicht zulassen, dass Rodrigo sich für mich opferte. »Rodrigo«, sagte ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Eben genau weil du jung und gesund bist und viele Talente hast, solltest du als Erster nach Spanien zurückkehren. Du kannst Arbeit finden und unseren alten Eltern zur Seite stehen. Wenn ich statt deiner nach Spanien zurückkehrte, wäre ich ihnen nichts als eine Last. Mit nur einem gesunden Arm kann ich wenig tun, um ihnen das Leben zu erleichtern.«
    Und mit so viel Überzeugungskraft, wie ich aufzubringen vermochte, fügte ich hinzu: »Als dein älterer Bruder befehle ich dir zu gehen. Ich befehle dir, meinen Wunsch zu erfüllen. Außerdem hat dein Herr in seiner Güte und Großzügigkeit dir, lieber Bruder, die Freiheit geschenkt, und du musst ihm deine Dankbarkeit erweisen, indem zu Algier verlässt, denn das ist sein Wunsch und der seiner Kinder.«
    »Genug!«, rief Mamí, »der Krüppel bleibt. Und du, junger Mann«, er deutete auf Rodrigo, »verschwinde, bevor ich es mir anders überlege und dich auch hier behalte.«
    Ich umarmte Rodrigo ein letztes Mal. »Sag unseren Eltern, sie sollen für mich beten und nicht die Hoffnung verlieren. Ich weiß, dass ich nach Spanien zurückkehren werde, das verspreche ich dir.«
    Trotz meiner zuversichtlichen Worte wusste ich, dass ich Rodrigo, wenn er erst einmal fort war, womöglich nie wiedersehen würde, ebenso wenig wie meine Eltern, und dass ich vielleicht auch nie wieder spanischen Boden betreten würde.
    Während die Vorbereitungen für die Abfahrt des Schiffes getroffen wurden, das Rodrigo und die Freigekauften nach Spanien zurückbringen sollte, setzte der Dezemberregen ein, der den Beginn des algerischen Winters ankündigte. Als sich die schwarzen Wolken auf ihrem Weg zum Inneren Afrikas über Algier entluden, wuschen sie die Staub- und Schmutzschichten von den Gebäuden und Straßen, aus Büschen und Bäumen spross üppiges Grün, überall blühten Blumen, in der Abenddämmerung duftete es in der casbah nach Geißblatt, und die Kuppeln der Paläste und die Minarette der Moscheen schimmerten gold und türkis, als wären sie frisch beschlagen. Freudig lächelnd strömten die Algerier auf die Straßen, saubere Kleider am Leib, den sie stundenlang im hammam geschrubbt hatten.
    Von einem einsamen, kleinen Marktplatz in der Nähe des höchsten Punkts der casbah , von dem aus man den ganzen Hafen im Blick hatte, sah ich, wie das Schiff, das Rodrigo in die Freiheit brachte, den Anker lichtete, den Kurs Richtung Spanien setzte und dann der Wind die Segel blähte. Im Winterregen wirkte das Mittelmeer voller, ruhig und satt.
    In den Tagen, Wochen und Monaten nach Rodrigos Abfahrt wuchs meine Verzweiflung. In meinem Kopf gab es nur einen Gedanken: meine Freiheit. Ich war entschlossen, beim Fluchtversuch notfalls mein Leben zu riskieren. Was war es schon wert, wenn ich meine Eltern vor ihrem Tod nicht noch einmal sehen konnte?
    Um den Mauren und Türken gegenüber gerecht zu sein, muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass sie uns christlichen Gefangenen erlaubten, unsere Religion auszuüben und die Riten zu begehen. In meinem Elend war die Religion der einzige Trost, den ich hatte. Während dieser Zeit hielt nur mein Glaube an Gott mich aufrecht. Priester durften sonntags und an Feiertagen die Messe lesen und die Kommunion austeilen. Ohne diese Geistlichen hätten Hunderte von Sklaven sich versucht gefühlt, abtrünnig zu werden. An vielen Abenden beteten selbst die grausamsten und gemeinsten unter uns für die Seelen der Männer, die an dem Tag zu Tode gefoltert worden waren. Wir wussten, dass uns jeden Moment dasselbe Schicksal ereilen konnte – wir brauchten nur den Zorn Arnaut Mamís oder Hassan Paschas zu erregen.
    Christen durften im bagnio Tavernen betreiben. Diese Schänken sorgten dafür, dass wir der Sklaverei nie entrannen, denn die unglücklichen Seelen – mich eingeschlossen – gaben die meisten Münzen, die sie mit ihrem Schweiß und Blut verdient hatten, für Alkohol aus. Denn das seelentötende Dasein als Sklave war nur im trunkenen Zustand

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