Die Leidenschaft des Cervantes
einzigen Mutter, die ich kannte. Anstatt mich als die Tochter ihres Häschers zu hassen, tat sie alles, damit ich glücklich war, und brachte mir alles bei, was sie wusste. Sie schlief in meiner Kammer, keine Minute wollte ich von ihr getrennt sein. Mein Vater war zufrieden mit ihr, weil sie mich wunderbare Manieren lehrte; darüber hinaus brachte sie mir bei, Gitarre zu spielen und zu singen und Spanisch zu sprechen, die Sprache, in der sie und ich uns unterhielten, damit im Haus meiner Vaters niemand verstand, was wir miteinander sprachen.
Im folgenden Jahr schickte Azucenas Herrin, die Gräfin, spanische Priester nach Algier, um sie auszulösen, aber mein Vater sagte, er werde sie um keinen Preis der Welt verkaufen, denn meinetwegen brauche er sie. Azucena weinte, wann immer sie mit mir alleine war. Sie aß nichts mehr und wurde blass und schwach. Ich fürchtete um ihr Leben. »Wenn ich groß bin und heirate, gebe ich dir deine Freiheit zurück«, sagte ich ihr immer wieder. Dann schloss Azucena mich in die Arme und küsste mein Gesicht. Jeden Abend kniete sie nieder und betete den Rosenkranz. Ich hatte gelernt, dass Allah der einzige Gott sei, doch als ich sah, welchen Trost Azucena in ihren Gebeten fand, welche Geduld ihre Religion sie lehrte, wie unverbrüchlich ihr Glaube war, dass Lela Marien die Last ihrer Sorgen von ihr nehmen werde, wünschte auch ich mir diesen Frieden von Seele und Geist. Zu den wenigen Habseligkeiten, die Azucena aus ihrem alten Leben gerettet hatte, gehörte eine kleine Statue Lela Mariens. »Wenn du mit aufrichtigem Glauben und reinem Herzen zur Mutter unseres Erlösers betest, wird sie dich erhören«, sagte Azucena. Ich bat sie, mich mit ihr beten zu lassen, aber das lehnte sie ab mit den Worten, dass mein Vater das nicht gutheißen und sie fortschicken würde, wenn man uns entdeckte. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, sie jemals zu verlieren. Damals erschien mir Lela Marien zum ersten Mal im Traum, auf dem Kopf trug sie eine Sternenkrone.
Zuerst wollte ich Azucena nichts von diesen Träumen sagen. Als ich es dann doch tat, erklärte sie, das sei ein Beweis, dass die Heilige Jungfrau sich wünschte, ich würde zum Christentum übertreten. Azucena sagte, sie würde verbrannt oder gepfählt werden, wenn jemand das herausfände, aber ich schwor, dass es unser Geheimnis bleiben und ich niemals mein Wort brechen würde, wenn ich damit dem Menschen schadete, den ich nach meinem Vater am meisten auf der Welt liebte.
Es folgte eine Schilderung von Azucenas Tod viele Jahre später. Dann begann sie, Zoraida im Traum zu erscheinen, und trug ihr auf, nach Spanien zu gehen und als Christin zu leben. Obwohl Azucena nichts dergleichen sagte, glaubte Zoraida, dass ihr ein Leben als Nonne und Braut Christi bestimmt sei.
Nicht, wenn ich es verhindern kann, sagte ich mir. Fast zehn Jahre waren vergangen, seit ich mich in Mercedes verliebt hatte, und mittlerweile war sie nur mehr eine schöne Erinnerung an meine Jugend. Während meiner Gefangenschaft in Algier war mir der Gedanke, mich wieder zu verlieben, anmaßend erschienen. Wie konnte ich hoffen, dass eine Frau jemals meine Liebe erwidern würde? Welche Frau wollte sich schon in einen Krüppel und Sklaven verlieben. Das reine, allumfassende Glücksgefühl, das ich damals empfand – zu wissen, dass die schöne und tugendhafte Zoraida mir vertraute, dass sie ihr Leben in meine Hände gelegt hatte –, habe ich seit dem Tag niemals wieder erlebt. Allzu viele Jahre waren vergangen, seit ich Freude empfunden hatte, ich hatte völlig vergessen, dass auch sie Teil des Lebens war. In meinen Jahren im bagnio war mein Herz verkümmert, bis ich Zoraida begegnete. Ich hatte vergessen, dass die Welt uns selbst in den übelsten Umständen bisweilen daran erinnert, dass es Schönheit gibt, dass Menschen zu Güte fähig sind, dass Satans Nachkommen auf Erden nicht zahlreicher sind als die Kinder Gottes. »Sie hat meine Seele gesehen«, sagte ich an dem Abend ganz leise zu mir selbst. »Das ist Liebe, denn ich fühle mich großzügig mit ihr, nicht egoistisch«, wiederholte ich immer wieder, ehe ich einschlief.
Von dem Abend an erfüllte Zoraida jede wache Minute meines Lebens, sie wurde zum strahlenden Licht, das in meinen Träumen leuchtete und meine Nächte glücklich machte. Ich wusste wieder, was Hoffnung heißt.
Zielstrebig begann ich mit den Plänen für meinen zweiten Fluchtversuch, aber unter allergrößter Vorsicht. Dieses Mal musste es
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