Die Leidenschaft des Cervantes
Spanien angesehener Mann, der sich von hiesigen Geldverleihern etwas geborgt hatte. Sie verbrachten ganze Tage im bagnio , schliefen und spielten Karten. Wochenlang passierte nichts, und allmählich glaubte ich, meine Wohltäterin würde nie wieder versuchen, mit mir Kontakt aufzunehmen.
Als ich eines Vormittags schließlich doch einen Moment allein war, wurde neben mir sofort wieder das Seil herabgelassen, an dem erneut ein kleines Bündel baumelte. Schnell nahm ich es an mich. Eingewickelt in ein parfümiertes Taschentuch fand ich ein zusammengeknülltes Blatt edlen Papiers. Rasch wurden das Seil wieder hochgezogen und die Fensterläden geschlossen. In meiner Hand hielt ich – ich zählte sie zweimal, um mich zu vergewissern, dass ich nicht halluzinierte – vierzig spanische Goldkronen. Der Brief war mit einer Zeichnung des Kreuzes signiert. Die Schrift der Verfasserin war exquisit:
Christenmensch,
ich muss mich kurz fassen, aber ich schwöre beim heiligen Namen der Lela Marien – der gesegneten Jungfrau –, dass ich Euch wohlgesonnen bin. Morgen, am helllichten Vormittag, wird in dem Teil des souk , in dem Heilkräuter verkauft werden, eine alte Frau auf Euch zukommen. Sie heißt Loubna. Sprecht nicht mit ihr. Sie wird Euch ihre Handfläche zeigen, auf die in Asche ein Kreuz gezeichnet ist. Folgt ihr, aber achtet darauf, dass niemand Euch folgt. Haltet sicheren Abstand zu ihr und tut, als ginget Ihr Euren üblichen Geschäften nach. Sie wird Euch in einen abgelegenen Teil der casbah führen, wo ein junger maurischer Herr Euch erwartet. Folgt ihm, aber stellt ihm keine Fragen.
Spielte das Schicksal mir einen weiteren grausamen Streich? Ungeachtet möglicher Gefahren musste ich herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte. Sollte auch nur ein Funken Hoffnung auf eine Flucht aus Algier bestehen, würde ich nötigenfalls wieder die Folter riskieren. Nach meinem vereitelten ersten Versuch war ich entschlossener denn je, die Süße der Freiheit zu kosten. Für einen Menschen, der die Freiheit kennt, ist Sklaverei die abscheulichste Strafe. Freiheit ist der Heilige Gral des Sklaven, ohne ihn ist sein Leben sinnlos.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich wünschte, Sancho wäre da, damit ich meine Unruhe mit ihm teilen konnte. Wie bewunderungswürdig war es von meinem Freund doch gewesen, sich der Gefahr eines grausamen Todes auszusetzen, wo er gewusst haben musste, wie gering seine Überlebensaussichten waren. Zumindest ruhte Sancho jetzt in Frieden. Der Tod hatte ihm das wieder zuerkannt, dessen jeder Sklave beraubt ist: seine Würde.
Am nächsten Morgen, den Anweisungen meiner geheimnisvollen Wohltäterin folgend, traf ich Loubna in der casbah . Ich ging ihr in einigem Abstand nach, bis die vielen Menschen sich etwas verliefen und wir den Rand eines Pinienwalds hinter einem der großen Häuser von Algier erreichten. Loubna betrat den Wald, ich eilte ihr nach. An einer geschützten Stelle erwartete uns ein junger, prächtig gekleideter Maure. »Folgt mir«, sagte er. Die alte Frau drehte sich um und kehrte denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Der junge Mann führte mich mit raschen Schritten in einen dichten, dunklen Teil des Waldes. Ich war zu aufgeregt, um Angst zu empfinden. Mir fielen die sanfte Stimme des jungen Mannes auf, seine geschmeidigen Bewegungen, sein langer Hals, die rosa Lippen, sein freundliches Gebaren. Als wir unter einem hohen Felsen stehen blieben, drehte er sich zu mir, nahm den Turban ab – und lange schwarze Haare fielen ihm über die Schultern. Ich war sprachlos: Nie zuvor hatten meine Augen eine so schöne Frau gesehen.
»Ich war es, die Euch das Geld aus dem Fenster zuwarf«, sagte sie. »Ich beobachte Euch schon eine Weile und habe gesehen, wie Ihr Euren Mitgefangenen Geschichten erzählt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Ihr ganz anders seid als die anderen Männer im bagnio und der Einzige, dem ich vertrauen kann.«
»Wer seid Ihr?«, fragte ich. »Warum segnet Ihr mich mit Eurem Vertrauen?«
»Meine Eltern gaben mir den maurischen Namen Zoraida, aber mein christlicher Name ist María«, sagte sie. »Ich bin die Tochter Agi Moratos. Mehr kann ich Euch jetzt nicht sagen. Ich beantworte Eure Fragen ein anderes Mal. Ich habe diesen Brief vorbereitet, er wird vieles erklären.« Sie zog einen kleinen Umschlag aus ihrem Ärmel und reichte ihn mir. »Lest ihn später. Jetzt müsst Ihr mir genau zuhören, denn ich weiß nicht, wann wir wieder Gelegenheit haben
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