Die Leidenschaft des Cervantes
meiden. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Je länger ich auf der Fensterbank saß, desto unruhiger wurde ich. Es war unabdingbar, dass ich mit Mercedes sprach, diese Unterredung duldete keinen Aufschub. Ich würde keinen Frieden finden, ehe ich nicht aus ihrem eigenen Mund erfahren hatte, was zwischen ihr und Miguel vorgefallen war.
Ich klopfte an Mercedes’ Tür und betrat ihr Gemach, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie kniete an ihrem Betstuhl und betete zu einer Jesusfigur, die an der Wand hing. Als Mercedes mich sah, bekreuzigte sie sich und stand auf. Sie trug ein schwarzes Hemd, in ihren Händen lag ein Rosenkranz. Mein unangekündigter Besuch schien sie nicht zu überraschen, eher war es, als hätte sie mich erwartet. Als sie die schwarze Mantilla von ihrem Kopf nahm, hätte ich fast aufgeschrien: Sie hatte ihre wunderschönen Locken abgeschnitten. Es sah aus, als hätte sie die Gartenschere dazu verwendet.
Ich schloss die Tür und trat auf sie zu. Kerzen beleuchteten den Schrein des Holzkreuzes, der seit Generationen im Besitz der Familie war. Sonst war es dunkel im Raum. Die Jesusfigur war rachitisch, Körper und Gesicht waren von Schmerzen verzerrt. Wann war ich das letzte Mal in Mercedes’ Räumen gewesen – waren seitdem wirklich Jahre vergangen? Die Wände waren kahl, Mercedes hatte alle Spiegel entfernt, die Vorhänge, die über den Himmel des Betts geschlagen waren, hatten die Farbe eines Leichentuchs. Der Raum wirkte, als würde eine Mystikerin darin leben. Es hätte mich nicht überrascht, an den Wänden Blutspuren zu sehen. Doch der abgeklärte Ausdruck in Mercedes’ Augen und ihre friedliche Gelassenheit verstörten mich. Hatte ich einen schrecklichen Fehler begangen?
»Luis, was habe ich das Vergnügen deines Besuchs zu verdanken?« Ihr Ton war distanziert, als spreche sie mit einem entfernten Verwandten.
»Ich kam früher als sonst vom Rat zurück und hörte, dass du außer Hauses warst. Ich habe Stunden auf dich gewartet. Was könnte dich so lange in Anspruch genommen haben?«
»Ich war unterwegs, um einige Erledigungen zu machen«, antwortete sie leise.
»Welche Art Erledigungen könnte derart viele Stunden erfordern? Es schmerzt mich zu sagen, dass ich dir nicht glaube. Hör auf, mich anzulügen, Mercedes.« Dann kam es mir über die Lippen: »Du hattest eine Verabredung mit Miguel de Cervantes, nicht wahr?«
Mercedes lächelte. »Ist das der Grund, weshalb du in mein Gemach gestürmt bist? Bist du von Sinnen, Luis? Ich habe Miguel de Cervantes nicht gesehen, seit er Spanien vor vielen Jahren verlassen hat.«
»Es ist schade, dass du diese Sache belustigend findest. Verhöhne nicht meine Ehre als Edelmann. Warum sollte ich dir glauben? Du hast mein Vertrauen in dich verspielt, als du mich mit Miguel betrogen hast. Du hast mich des Anrechts eines jeden Mannes beraubt, seiner Gemahlin vertrauen zu können.«
»Ich habe nicht vergessen, dass ich dich in unserer Jugend hintergangen habe, Luis. Aber du vergisst, damals waren wir noch nicht verheiratet. Sicher, unsere Familien hatten uns füreinander ausersehen, aber wir beide hatten nie miteinander über eine Heirat gesprochen. Was Miguel und ich taten, war eine unbedachte und unverzeihliche jugendliche Leichtfertigkeit.« Kurz hielt sie inne. Als sie weitersprach, lag großer Ernst in ihrer Stimme. »Deine falsche Anschuldigung zwingt mich, dich von einer Entscheidung in Kenntnis zu setzen, die ich getroffen habe. Ich war heute bei meinem Beichtvater, und wir haben uns viele Stunden unterhalten.«
Als Mercedes ein paar Schritte auf mich zutrat, sah ich im Licht der dünnen Kerzen die Tränen, die ihr über die Wangen rannen. Sie stand so nah bei mir, dass ich ihr Haar, ihre Haut, ihren Atem riechen konnte.
»Seit Längerem schon sprechen Pater Dionisio und ich über etwas sehr Bedeutsames. Heute habe ich endgültig die Entscheidung getroffen. Ich hatte gehofft, zuerst den kleinen Diego darauf vorzubereiten, aber du lässt mir keine andere Wahl. Deine kränkenden Worte zwingen mich, meine Ehre zu verteidigen. Inspiriert vom Beispiel der Ehrwürdigen Mutter Teresa von Ávila werde ich der Welt entsagen und den Rest meines Lebens als Unbeschuhte verbringen. Ich werde barfuß gehen, Almosen für die Armen erbetteln und mich allein ihrer Hilfe widmen. Mutter Teresa glaubte, dass wahre Gleichheit nur im Gelübde der Armut existiert. Wenn ich ihrem Beispiel folge, finde ich den Weg, der zu meinem Innersten führt. Von nun an
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