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Die leise Stimme des Todes (German Edition)

Die leise Stimme des Todes (German Edition)

Titel: Die leise Stimme des Todes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kenlock
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gab keine Garantie, dass sie es diesmal nicht auf die brutale Tour versuchen würde.
    Mark sah sich noch einmal in der Wohnung um. Hatte er etwas vergessen? Nein. Neben der Reisetasche lag sein Laptop, ihn würde er mitnehmen, damit er sich später in seinen eigenen Rechner einloggen konnte, um festzustellen, ob die Bestätigung von ORGANIC eingetroffen war.
    Er hatte an alles gedacht. Sein Verschwinden würde unauffällig vonstatten gehen. Soweit er es beurteilen konnte, würde niemand Verdacht schöpfen. Auf dem Anrufbeantworter hatte er eine Nachricht hinterlassen, die erklärte, er würde für zwei Tage zu einem Freund an den Bodensee fahren.
    In Wirklichkeit wusste Mark nicht, wann er in seine Wohnung zurückkehren würde. Hier war es gefährlich, hier war er verwundbar.
     
    Koszieky bearbeitete seine Fingernägel mit einer aufgebogenen Büroklammer und versuchte, den Dreck unter den Nägeln hervorzupulen, während er aus dem Augenwinkel Rico Sanden beobachtete, der nachdenklich im Zimmer auf und ab ging.
    Der Russe wusste, dass sein Partner in Schwierigkeiten steckte. Das bedeutete, dass auch er bald Probleme bekommen würde. Dementsprechend war er nervös, obwohl er sich nichts anmerken ließ und so gelassen wirkte wie immer. Sanden war aufgeregt genug, es war nicht nötig, ihm noch weiter zuzusetzen.
    Der Raum, in dem sie sich aufhielten, ging auf den Hinterhof einer bankrotten Schreinerei hinaus. Obwohl hier schon seit Monaten kein Holz mehr gesägt worden war, lag der Geruch von Harz und Leim noch immer in der Luft. Ein Geruch, der in Koszieky wehmütige Erinnerungen an seine russische Heimat wachrief.
    Er lehnte sich in das verschlissene Sofa zurück und lauschte dem Knacken und Knarren der alten Polsterung unter seinem Gewicht. Die Couch sah aus, als habe man sie bei der letzten Sperrmüllsammlung von der Straße geholt. Wenn er sich anstrengte, konnte er über den Duft der Sägespäne hinweg, die überall den Boden bedeckten, den säuerlichen Gestank von verschüttetem Alkohol und Erbrochenem wahrnehmen. Ein Geruch, der ihm seit seiner Kindheit vertraut war.
    Sein Vater hatte nach jeder Nachschicht ausgiebig gesoffen, um dann polternd die morschen Stiegen zur Wohnung 267 in einem tristen Wohnkomplex nahe des Moskauer Bahnhofs, emporzusteigen. Der Alkoholgestank drang jedes Mal schon durch die Türritzen, bevor er den Schlüssel ins Schloss schob. Danach folgte, was in vielen russischen Familien als normal, hier im Westen aber als Drama angesehen wurde. Der nur sechzig Kilo schwere Koszieky zog sein Lederkoppel aus den Hosenschlaufen und drosch auf die verängstigt wartende Familie ein, bis ihm selbst der Arm wehtat oder er einfach zu müde wurde. Dann fiel er angezogen auf sein Bett, schlief acht Stunden, trat die neue Arbeitsschicht an, und alles ging von vorn los. So war es viele Jahre seines Lebens gewesen. Als Kind hatte Koszieky geglaubt, die tägliche Prügel gehöre zum Leben wie der Schnee zum Moskowiter Winter. Als er vierzehn war, überragte er seinen Vater bereits um Haupteslänge und wog vierzig Kilo mehr als der Alte. Trotzdem hatte er noch zwei Jahre lang stumm die Schläge weggesteckt, bis am Abend des 6. Januar 1985, dem Geburtstag des Herrn, wie ihn die orthodoxen Christen feiern, etwas mit ihm geschehen war, etwas, das er selbst heute noch nicht richtig begriff.
    Plötzlich hatte er die zur Abwehr erhobenen Arme sinken lassen und seinem Vater in die Augen gesehen, ihm zum ersten Mal richtig in die Augen gesehen. Dann war er zwei Schritte vorgetreten, hatte ihm den Gürtel aus der Hand genommen und in eine Ecke des Zimmers geworfen. Etwas musste in diesem kurzen Moment in seinen Augen zu lesen gewesen sein, denn sein Alter hatte sich wortlos umgewandt und die Wohnung verlassen. Von diesem Tag an waren Koszieky, seine Mutter, seine zwei Schwestern und seine drei Brüder nicht mehr verprügelt worden.
    Zwei Jahre später war sein Vater gestorben. Damals lebten sie bereits in Deutschland und Koszieky hatten seinen wahren Wert und seine wirklichen Fähigkeiten längst erkannt. Boris Koszieky, den niemand mehr schlagen konnte oder durfte. Ein Mann, den man fürchtete.
    Sanden unterbrach seine Wanderung durch das Zimmer und blieb vor dem russischen Hünen stehen.
    „Scheiße!“, fluchte er. „Ich habe keine Ahnung, wie wir es anpacken könnten. Mir fällt einfach nichts ein.“
    Koszieky schwieg. Er wusste, Rico erwartete keine Antwort. Laut zu sagen, was er dachte, war seine Art, sich

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