Die Lennox-Falle - Roman
über einen wissen wir ja Bescheid, Reynolds aus der Fernmeldeabteilung. Man hat mir gesagt, er sei einfach verschwunden, wie eine Ratte in der Kanalisation. Wahrscheinlich lebt er jetzt irgendwo am Mittelmeer und läßt sich von den Nazis eine Pension bezahlen, falls die nicht vorgezogen haben, ihn gleich abzuknallen.«
Ein paar Augenblicke lang herrschte Schweigen. Schließlich sagte Drew: »Und wie geht’s jetzt weiter, Lady?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Herrgott, ich weiß nicht, wie ich es richtig formulieren soll … ich habe nie gedacht, daß ich so etwas je denken würde, wirklich, geschweige denn, es zu jemandem sagen, der mich vielleicht davor bewahrt, getötet zu werden, eine Untergebene, die eine Wohnung besitzt, die ich mir nie leisten könnte.«
»Könnten Sie sich bitte ein wenig klarer ausdrücken?«
»Wie soll ich das? Ich dachte immer, mein Bruder wäre mein Vorbild, weil er in allem immer recht hatte und irgendwie vollkommen
war. Und dann habe ich ihn gehört, kurz vor seinem Tod in diesem Gasthaus - Sie wissen schon, was ich meine - als er ausrief, daß er Sie liebt -«
»Hören Sie auf, Drew«, sagte Karin de Vries scharf. »Wollen Sie damit sagen, Sie würden Ihren Bruder auch in seiner Verblendung imitieren?«
»Nein, das will ich nicht«, sagte Lennox ruhig und mit leiser Stimme und sah ihr dabei in die Augen. »Seine Verblendung hat mit meinen Gefühlen nichts zu tun, Karin. Darüber bin ich hinweg - es hat mir ohnehin nie gut getan. Sie sind zuerst in sein Leben getreten und in meins erst Jahre später, und da liegen Welten zwischen. Ich bin nicht Harry, könnte nie Harry sein, ich bin ich, und ich habe nie jemanden wie Sie kennengelernt … Wie wäre das als Erklärung?«
»Die Erklärung ist akzeptiert, Drew. Ich muß zuerst meine Geister loswerden, und wenn ich das geschafft habe, dann wäre es schön, wenn Sie da sind und auf mich warten. Vielleicht könnte ich mich zu Ihnen hingezogen fühlen, weil Sie Eigenschaften besitzen, die ich sehr bewundere, aber im Augenblick ist eine derartige Beziehung für mich undenkbar. Zuerst muß die Vergangenheit abgeschlossen werden. Können Sie das verstehen?«
»Ob ich es jetzt verstehe oder nicht, ich werde mir jedenfalls verdammte Mühe geben, daß es dazu kommt.«
Es war Mittagszeit, und die Straßen wimmelten von Menschen, während die Angestellten aus den praktisch leeren Bürogebäuden in Scharen in die Cafés und Restaurants strömten. Für einen Pariser war das Mittagessen mehr als nur eine Mahlzeit; es war ein kleines Ereignis.
Und deshalb wurde Dr. Gerhard Kröger auch immer unruhiger, während er mit der zusammengefalteten Zeitung vor dem Gesicht auf der Straße stand und den Eingang des Deuxième Bureau zu seiner Linken beobachtete. Er konnte es sich einfach nicht leisten, Claude Moreau zu übersehen, durfte keine Stunde vergeuden. Für seinen Patienten Harry Lennox hatte der Countdown begonnen; er verfügte allerhöchstens noch über zwei Tage - achtundvierzig Stunden - und selbst das war nicht präzise. Und
dann war da noch etwas, was Kröger noch mehr belastete, eine Einzelheit, die er seinen Vorgesetzten in der Bruderschaft verschwiegen hatte: Bevor das Gehirn das Implantat schließlich abstieß und praktisch explodierte, trat rings um die Operationsstelle eine schreckliche Verfärbung ein; ein Hautausschlag von Handtellergröße wurde sichtbar und würde im Falle einer Autopsie ohne Zweifel Aufmerksamkeit erregen. Und obwohl das allgemein nicht bekannt war, war es durchaus möglich, die in einem EPROM gespeicherten Daten auch dann auszulesen, wenn man nicht über die ursprünglichen Codierungsmittel verfügte.
Wenn dieses Wissen in die falschen Hände geriete, konnte das zur Zerstörung der Bruderschaft der Wacht führen. Ihre Geheimnisse wären dann nicht mehr geschützt und ihre globalen Ziele offenkundig. Mein Gott, sinnierte Kröger. Wir sind die Opfer unseres Fortschritts! Dann dachte er an die Verbreitung von Atomwaffen und begriff, wie zutreffend seine abgeschmackte Schlußfolgerung war.
Da erschien Moreau! Der breitschultrige Chef des Deuxième trat aus dem Eingangsportal des Gebäudes und bog nach rechts, eilte schnell über den Bürgersteig. Er hatte es eilig, und Kröger mußte beinahe rennen, um ihn einzuholen, weil der Franzose in die entgegengesetzte Richtung ging. Er bahnte sich mit teils in deutscher, teils in französischer Sprache gemurmelten Entschuldigungen seinen Weg durch die
Weitere Kostenlose Bücher