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Die Lennox-Falle - Roman

Die Lennox-Falle - Roman

Titel: Die Lennox-Falle - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Perspektive für das Gesamte. Aber verzeihen Sie mir, fahren Sie fort. Was hat sie gesagt?«
    »Es waren Ihre Augen, Mr. Villier. Und die Jodelles, als er sie auf dem Bürgersteig anhielt und hysterisch zu schreien anfing. ›Sie hätten beide so auffällig blaue Augen‹, sagte sie. ›Aber es war eine ungewöhnlich helle Farbe, etwas, was bei blauäugigen Menschen nur sehr selten vorkommt.‹ Also dachte sie, daß an dem Gewäsch des alten Mannes, Wahnvorstellungen hin oder her, vielleicht doch etwas dran sein könnte. Sie gab zu, daß das eine höchst spekulative Vermutung war, aber eine, die man nicht einfach
übersehen sollte. Und wie Henri schon erwähnte, sie ist Ärztin.«
    »Also hatten Sie einen Verdacht, dem Sie nachgegangen sind«, sagte Jean-Pierre mit einem Kopfnicken.
    »Als im Fernsehen gemeldet wurde, ein nicht identifizierter alter Mann habe sich im Theater erschossen, nachdem er geschrien hatte, Sie seien sein Sohn - nun, da wußte ich, daß ich Jodelle gefunden hatte.«
    »Aber das hatten Sie nicht, Mr. Lennox. Sie haben den Sohn gefunden, nicht den Vater, den er nie kennengelernt hat. Und wo stehen Sie jetzt? Ich kann dem, was Sie bereits wissen, kaum etwas hinzufügen, und alles das habe ich selbst erst heute abend von den einzigen Eltern erfahren, die ich je gekannt habe. Sie sagten mir, Jodelle sei ein Bariton an der Pariser Oper, ein Résistancekämpfer gewesen, den die Deutschen entdeckt und in ein Konzentrationslager geschickt hatten, aus dem er angeblich nie zurückgekehrt war. Offensichtlich ist er doch zurückgekehrt, und allem Anschein nach hat der arme Mann um seine Schwächen gewußt und sich nie zu erkennen gegeben.« Der Schauspieler dachte nach und fügte dann ein paar Augenblicke später nachdenklich und bedrückt hinzu: »Er hat mir ein privilegiertes Leben verschafft und selbst auf ein lebenswertes Leben verzichtet.«
    »Er muß dich sehr geliebt haben, mein Herz«, sagte Giselle. »Aber stell dir nur vor, mit welcher Sorge und welchen Qualen er leben mußte.«
    »Sie haben ihn gesucht. Sie haben sich so bemüht, ihn zu finden - er hätte ärztlich behandelt werden können. Herrgott, wie tragisch!« Jean-Pierre blickte zu dem Amerikaner hinüber. »Noch einmal, Monsieur, was kann ich sagen? Ich kann Ihnen auch nicht mehr helfen, als ich mir selbst helfen kann.«
    »Sagen Sie mir genau, was geschehen ist. Ich habe im Theater nur sehr wenig erfahren. Die Polizei war nicht da, als es passierte, und die Zeugen, die dageblieben sind - bis ich eintraf, waren es nur noch Platzanweiser -, waren keine große Hilfe. Die meisten behaupteten, sie hätten die Rufe gehört und zuerst gedacht, es sei Beifall, und dann sahen sie einen alten Mann in abgerissener Kleidung, der den Mittelgang heruntergerannt kam
und schrie, Sie seien sein Sohn. Er habe ein Gewehr in der Hand gehalten, sich den Lauf in den Mund gesteckt und geschossen. Und das war so ziemlich alles.«
    »Nein, da war noch mehr«, sagte Villier und schüttelte den Kopf. »Im Zuschauerraum herrschte einen Augenblick lang Stille, der Schock des Erstaunens, und in diesem kurzen Augenblick habe ich ganz deutlich gehört, was er gerufen hat. ›Ich habe dich und deine Mutter im Stich gelassen - ich bin nutzlos, ein Nichts. Du sollst nur wissen, daß ich es versucht habe - ich habe es versucht, aber nicht geschafft.‹ Das ist alles, woran ich mich erinnere. Dann trat Chaos ein. Ich habe keine Ahnung, was er gemeint hat.«
    »Es muß in den Worten stecken, Mr. Villier«, sagte Lennox mit Nachdruck, »und es muß etwas gewesen sein, was für ihn so ungeheuer wichtig, so katastrophal war, daß er das Schweigen eines ganzen Lebens gebrochen und Ihnen gegenübergetreten ist. Eine letzte Geste, bevor er sich selbst tötete; irgend etwas muß das ausgelöst haben.«
    »Oder das letzte Aufbäumen eines gestörten Bewußtseins, das in den Abgrund des völligen Wahnsinns gestürzt wurde«, schlug die Frau des Schauspielers vor.
    »Das glaube ich nicht«, merkte der Amerikaner höflich an. »Dazu war er zu zielbewußt. Er wußte ganz genau, was er tat, was er tun würde. Irgendwie hatte er es geschafft, sich mit einem am Körper verborgenem Gewehr ins Theater zu schleichen, was gar nicht leicht ist, und dann gewartet, bis die Vorstellung vorbei war und Ihr Mann den Beifall der Menge entgegennahm. Den wollte er ihm nicht versagen. Ein Mann im emotionalen Aufruhr einer Wahnsinnstat würde eher dazu neigen, das Stück zu unterbrechen und damit die

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