Die Leopardin
Nachdem er beim
Wiedersehen mit seinem Sohn vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen
war, hatte er Eleanor und Judith erzählt, der König â das Opfer
einer leichten Kopfverletzung â sei gefangengenommen worden,
Renard vermutlich bei ihm und Harry tot. Aber man wisse nichts Genaues.
Zitternd
saà Eleanor im Bett, als die Mägde das Zimmer betraten. Renard mochte
tot oder gefangen sein â oder auch nicht ⦠Die UngewiÃheit
war eine ständig wachsende Qual. Sie konnte nicht essen, sich kaum noch
auf irgend etwas konzentrieren. Vor fünf Tagen hatte sie Judith auf
Ravenstow zurückgelassen, um das Grenzland von Caermoel aufzusuchen und
die Garnison vor einem möglichen Angriff des Grafen Chester oder seiner
walisischen Aufgebote zu warnen und die Soldaten durch ihre Anwesenheit
zu ermutigen.
Fünf einsame, beängstigende Tage, erfüllt
vom Hämmern der Steinmetze, von den kreischenden Sägen der Zimmerleute,
dem Klopfen der Maurerkellen, dem Poltern der Wagen, die Vorräte für
den Fall einer Belagerung heranschafften â Geräusche, die in
dunkler, gähnender Leere widerhallten â¦
»Madam?« fragte eine der Mägde, und Eleanor schob die bebenden Hände in die Ãrmel des Morgenmantels.
»Das blaue Kleid. Halt nach der Messe heiÃen Honig und Wein bereit.«
»Ja,
Madam.« Die Dienstmagd ging zur Kleiderstange. Eine andere füllte die
Holzkohlenpfanne. Hugh erwachte und begann hungrig zu schreien. Eleanor
legte ihren Sohn an die Brust und beobachtete, wie er zufrieden saugte.
HeiÃe Liebe und Angst um seine Zukunft trieben ihr Tränen in die Augen.
Das behinderte den MilchfluÃ. Enttäuscht und erbost wandte sich Hugh
von der Brustwarze ab und brüllte. Das veranlaÃte seine Mutter, noch
heftiger zu schluchzen. Letzten Endes muÃte sie ihn einem Dienstmädchen
übergeben, das neulich ein Kind geboren und überschüssige Muttermilch
hatte.
Der Weinkrampf ermüdete Eleanor und verursachte
starke Kopfschmerzen, beruhigte sie aber ein wenig. Bleich und
erschöpft ging sie zur Messe, zündete Kerzen an und betete um göttliche
Hilfe. Als sie aus der Kapelle in den Hof trat, wurde sie von winzigen
Schneeflocken begrüÃt, die im Wind umherwirbelten. Einer der Wächter,
die auf der Zinnenmauer patrouillierten, verkündete aufgeregt, Soldaten
würden sich der Festung nähern.
Es war der schlimmste
Augenblick in Eleanors Leben. Reglos stand sie da, wie gelähmt vor
Entsetzen. Hätte sie sich bewegen können, wäre sie â die Hände auf
die Ohren gepreÃt â in den finstersten Winkel geflohen. William de
Lorys, Renards Gefährte in Antiochien und nunmehr Constable von
Caermoel, war ihr aus der Kapelle gefolgt und hatte den Warnruf des
Wachtpostens gehört. »De Gernons kann es nicht sein«, versicherte er.
»Es ist zu früh. Der Hurensohn wird sich immer noch in Gloucester
aufhalten und der Kaiserin seine immerwährende Treue geloben, in der
Hoffnung, Carlisle zu ergattern.«
Da kam wieder Leben in Eleanor. »Aber das wird sie ihm nicht geben«, erwiderte sie mit steifen Lippen. »Eher Caermoel â¦Â«
»Mylady,
Euer Mantel.« Alys legte ihr einen Umhang aus Wollstoff und
Marderfellen um die Schultern, während de Lorys zu den Zinnen
hinaufstieg und die Neuankömmlinge beobachtete.
Mechanisch
strich Eleanor über den glatten Pelzbesatz ihres Umhangs und dachte an
die kleinen Tiere, die dafür ihr Leben gelassen hatten. Wie oft muÃten
irgendwelche Geschöpfe sterben, um anderen zu nutzen ⦠Alys
versuchte, sie in die Wärme hineinzuführen und zeigte mahnend auf die
schweren Schneewolken.
»Laà mich in Ruhe!« befahl
Eleanor in einem Ton, der besser zu Judith oder sogar zur zänkischen
Kaiserin gepaÃt hätte. Energisch schüttelte sie den Arm ihrer
fürsorglichen Zofe ab und folgte de Lorys auf die Zinnen.
Der
Wind zerrte an ihrem Schleier, rià dünne Haarsträhnen aus den Zöpfen
und brannte ihr in den zusammengekniffenen Augen, die sie auf den
Reitertrupp richtete â winzige Männer auf winzigen Pferden, mit
Packtieren im Schlepptau. An der Furt zögerten sie nicht, ritten
schnell durch das aufspritzende Wasser, dann erreichten sie den steilen
Weg, der sich zur Festung heraufwand.
»Der Feind würde
nicht in so kleiner Zahl hierherkommen«, erklärte de Lorys. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher