Die Letzte Arche
das hat.«
Masayo lachte. »Er erfindet den Drogenhandel also von Grund auf neu. Gott segne die menschliche Natur.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Wisst ihr, ich habe im Archiv ein paar Recherchen über Gefängnisse angestellt. Die Insassen markieren ihr Territorium, prügeln sich um Essen, erzählen sich aus Mangel an Stimulation ihre Träume und handeln mit Drogen. Genau wie wir. Ist das alles, was wir hier aufgebaut haben – ein Gefängnis zwischen den Sternen?«
»Grace Grays Mutter hat in Barcelona jahrelang in Geiselhaft gesessen«, sagte Masayo Saito. »Man hat sie in Kellern an Heizkörper gekettet. Grace ist das Ergebnis einer Vergewaltigung durch einen der Wachposten; sie ist in Gefangenschaft zur Welt gekommen. Eine unglaubliche Geschichte. Und doch, sind wir nicht alle Geiseln auf dieser Arche, Geiseln der Ziele der Missionsplaner? «
»Ich würde sagen, es waren auch unsere Ziele«, erwiderte Holle.
»Das weiß nur Gott allein«, meinte Masayo.
»Manchmal denke ich, das ist das Problem«, sagte Kelly. »Gott, meine ich. Die Sozialingenieure haben immer versucht, Gott aus unserem Leben fernzuhalten. Die Arche ist eine Mission eines ausdrücklich säkularen Staates, der das Gegenbild des Mormonenstaates in Utah sein wollte, mit dem er im Krieg lag. Und trotz der Ungebetenen und Illegalen haben sie dieses Ziel erreicht, nicht wahr? Viele auf der Arche sind religiös, aber wir
sind keine religiöse Gemeinschaft. Manchmal wünschte ich, wir wären es – wir hätten eine gemeinsame Mission im Auftrag des einen oder anderen Gottes. Ein Kloster wäre sicher ein besseres Gesellschaftsmodell als ein Gefängnis.«
Masayo schüttelte den Kopf. »Dafür ist es zu spät, Kelly. Ich glaube, wir haben Gott auf der Erde zurückgelassen.«
Holle stand auf. »Ich muss los. Doc Wetherbee sagt, er möchte Zanes Therapie überprüfen.«
»Tja, das gehört auch zu den Dingen, die ganz oben auf der Liste stehen. Und halte mich auf dem Laufenden, was sich mit dem Kind tut. Okay, Masayo, was kommt als Nächstes?«
63
Mike Wetherbee lud Holle, Venus und Grace in den OP ein, wie er die kleine Kabine mit den Etagenbetten, dem hartnäckigen antiseptischen Geruch und den Schränkchen mit medizinischer Ausrüstung nannte, mit der er alles von Augenleiden bis hin zu schlechten Zähnen behandelte. Auf einem Monitor zeigte er ihnen eine Aufnahme, die ihn selbst und Zane bei einer Therapiesitzung zeigte, der letzten eines Programms, das nun seit über zwei Jahren lief. Auf dem Bildschirm unterhielten sich Zane und Wetherbee leise miteinander, während sie Unendlichkeitsschach spielten.
»Das ist der Teil, wo wir nur rumquatschen«, sagte Wetherbee leise. »Wie war dein Tag und so. Es dauert immer eine Ewigkeit, bis er auftaut. Meistens rede ich. Und ich hasse dieses verdammte Spiel.«
»Schauen wir einfach zu«, murmelte Grace. Sie hockte auf der Kante eines Krankenbettes.
Unendlichkeitsschach war eine Erfindung von Zane. Man spielte es mit normalen Figuren auf einem normalen Brett, aber die Spieler mussten sich vorstellen, dass das Brett um sich selbst geschlungen war, so dass der rechte Rand am linken und der obere am unteren klebte. So konnte sich eine Figur bei den üblichen Zugregeln rechts über den Rand ihrer Welt hinausbewegen und auf der linken Seite wieder erscheinen. Zane behauptete, das erzeuge die Illusion von Unendlichkeit auf einem
endlichen Spielfeld, und er zeigte gern Computergrafiken, auf denen man sah, dass das um sich selbst geschlungene Brett topologisch einem Torus entsprach, einem Donut. Die Dame wurde besonders stark; mit einer leeren Diagonale, Reihe oder Linie konfrontiert, konnte sie mit einer einzigen Bewegung theoretisch eine unendliche Zahl von Feldern überspringen. Zane und andere leidenschaftliche Spieler arbeiteten eifrig Varianten für Standardregeln und Standardspielzüge aus. So hatte Weiß beispielsweise mit dem ersten Zug einen sofortigen Vorteil. Die Dame konnte rückwärtsziehen und auf der anderen Seite der Welt wieder erscheinen, um dort die Dame des Gegners zu schlagen, obwohl sie dann dem gegnerischen König zum Opfer fallen würde. Türme, die rückwärts in die hintere Reihe des Gegners zogen, konnten eine Menge Schaden anrichten, bevor sie geschlagen wurden. Die Endspiel-Analyse war weniger betroffen, weil das Brett dann ohnehin so leer war.
Das Spiel war eine augenfällige psychologische Metapher für die Freiheit, die sie alle in einer umschlossenen Welt suchten, aber es
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