Die Letzte Arche
Flut«, sagte Patrick. »Am Ende erreicht sie uns alle.«
Schließlich öffnete sich die Tür. Eine große, schwere Sicherheitsschleuse hatte den alten Kinoeingang ersetzt. Sie nahmen ihre Sachen und bildeten eine Schlange, die sich langsam vorwärtsbewegte. Zum ersten Mal seit dem Morgen sah Holle einen Schimmer Tageslicht. Geschrei drang an ihr Ohr.
Sie drehte sich um und warf noch einen letzten Blick in den Kinosaal. Von der Decke hing ein Wald von Drahtseilen und Flaschenzügen, an denen die Kandidaten bei Schwerelosigkeitssimulationen gehangen, Komponenten von Raumfahrzeugen
zusammengebaut und sich mit Rückstoßpistolen hierhin und dorthin befördert hatten. Sie dachte daran zurück, wie sie vogelgleich im Sturzflug herabgesaust waren, lachend, während ihre Tutoren vom Boden aus lächelnd zugesehen hatten. Jetzt verließ sie diesen sicheren Hafen, und es war ein für alle Mal vorbei mit solchen Spielen. Sie wandte sich ab und ging ins Tageslicht hinaus.
28
Draußen im Freien war der Himmel klar und so blau wie ein Vogelei; es war ein schöner Herbstmorgen in Colorado, wie man ihn den Alteingesessenen zufolge nur noch selten erlebte. Im Westen erhoben sich die Rockies, gelassen wie immer, erhaben über das menschliche Getümmel. Aber Holle war schockiert von dem heranflutenden Lärm und dem überwältigenden Gestank von Bränden.
Überall waren Menschen; sie standen Reihen von Cops und Soldaten der Nationalgarde gegenüber. Die Menge drängte sich um den Haupteingang auf dem Colorado Boulevard. Dem Evakuierungsplan zufolge sollten die Kandidaten in südlicher Richtung über den Boulevard abtransportiert werden, und sie sah, dass die Fahrbahn frei gehalten wurde, ein Korridor aus Zäunen und Stacheldraht, bemannt von alle paar Meter postierten Soldaten. Die Busse waren vorgefahren und warteten auf sie, dick gepanzert, die Fenster mit kugelsicheren Platten geschützt, mit waffenstarrenden Schießscharten. Auf der unlackierten Flanke ihres Busses stand ungelenk aufgemalt »B-6«.
Die Kandidaten wurden durch einen Maschendrahttunnel zur Kreuzung Colorado und 17 th Avenue geschmuggelt, wo die Busse standen. Und plötzlich waren die »Feindseligen« da, wie Don sie nannte, gleich hinter dem Zaun, nur einen Meter von Holles Gesicht entfernt, größtenteils junge Männer, aber auch ältere Leute, Frauen und Kinder. Manche wurden vom gewaltigen
Druck der Menschen hinter ihnen so fest gegen den Zaun gepresst, dass die Maschen sich in die Haut ihrer Hände und ihres Gesichts gruben. Als sie die Kandidaten erkannten, erhob sich eine Art Gebrüll. Die Menge drängte noch heftiger nach vorn, und der Zaun geriet tatsächlich ins Wanken. Soldaten feuerten Warnschüsse in die Luft.
Kelly wich zurück. »Du meine Güte.«
»Einfach weitergehen«, sagte Don leise. Er hielt sein automatisches Gewehr schussbereit in den Händen.
Edward Kenzie grunzte. »Strategische Fehler. Ihr seid viel zu nah am City Park mit seinen Eye-Dee-Lagern. Und wir hätten euch alle schon lange vor dem Evakuierungstag hier wegschaffen sollen.«
»Aber das sind nicht alles Eye-Dees«, widersprach Holle. »Schaut, der Bursche da trägt eine Polizeiuniform.«
»Alles bricht zusammen«, sagte Don düster. »Die großen neuen, befestigten Lager in den Rockies bieten einfach nicht genug Platz für alle. Selbst wenn man gestern noch Regierungsmitarbeiter war, Cop, Arzt oder Rechtsanwalt – wenn man bei den Block-Auslosungen verloren hat, steht man jetzt auf der anderen Seite dieses Zauns und ist auf einmal ein Eye-Dee, genauso wertlos wie alle anderen.«
Holle kannte den zugrunde liegenden Plan, die Reaktion der Stadt auf die finale Krise. Die Experten sagten zwar, es könne noch ein Jahr dauern, bis das Wasser tatsächlich über die Stufen des Capitols und die berühmte »Eine Meile hoch«-Gravur schwappte, aber Holle hatte gehört, dass man von den Wolkenkratzern in der Innenstadt aus schon nicht mehr nur die kahlen Gipfel der Rockies Front Range im Westen sah, sondern auch einen blaugrauen Schimmer im Osten, den Ozean, der Amerika ertränkt hatte. Und mit dem Kollaps der Oststaaten war Denver,
die größte Stadt im Umkreis von tausend Kilometern und seit nahezu zwanzig Jahren Heimat der Bundesregierung, eine Insel für Flüchtlinge geworden. Holle hatte Satellitenbilder der großen Transportwege gesehen, die von den endlosen Kolonnen in schlammige, braune Fäden verwandelt wurden, jedes Pixel ein menschliches Wesen, Erwachsene, befrachtet mit
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