Die Letzte Arche
eingestürzt und die Fahrbahnen durch Trümmer blockiert. Ein Drahtzaun mit Geschütztürmen zog sich in nördlicher und südlicher Richtung an der 470 entlang, auf der keinerlei Verkehr herrschte. Hinter dem Zaun sah Holle weitere Stacheldrahtbarrieren und sich bewegende Gestalten, die sich als Silhouetten gegen den Osthimmel abhoben, und sie hörte fernes Geschrei.
Die Lastwagen hielten, und sie mussten absteigen.
»Hilf mir mal, Engelchen, ich bin schon ganz steif vom ewigen Stehen.«
Die Leute aus den Lastwagen mussten eine Schlange bilden und wurden zu einer Art Palisadenzaun aus Stahlträgern und
Betonplatten geführt, der sich über den Highway spannte; er ähnelte einer Mautstelle. Holle sah, dass sie nach einer raschen Beurteilung in vier Reihen sortiert wurden. Die Menschen bewegten sich unterwürfig vorwärts und fügten sich dem über sie verhängten Urteil.
Holle und Mary Green stellten sich zusammen in die Schlange. »Warum sind Sie nicht mit den anderen nach Westen gegangen, Mrs. Green?«
»Jeder von uns muss das Seinige tun. Hast du die letzte Rede des Präsidenten nicht gehört? Man muss bis zu den Rockies marschieren. Dann muss man helfen, neue Städte zu bauen, und so weiter. Das kann ich nicht mehr, in meinem Alter. Aber ich konnte ja auch nicht einfach zu Hause sitzen bleiben, nicht wahr? Also bin ich hier und tue mein Bestes, um die anderen zu beschützen. Der Präsident hat versprochen, uns zu helfen, sobald die Krise vorbei ist.«
»Andere beschützen? Wie denn?«
»Es gibt mehr als eine Methode, einen Krieg auszufechten.« Mary Green musterte sie. Der Staub der Straße klebte an ihrem Gesicht, das mit einer dicken Schicht Sonnenschutzcreme überzogen war, und ihre Stimme wurde streng. »Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, nicht wahr? Vielleicht bist du wirklich eine Kandidatin. Mir kam’s schon immer so vor, als würden sie diesen Kandidaten nichts Nützliches beibringen. Ich weiß nicht, was sie mit euch vorhaben, niemand weiß das. Aber was für einen Sinn hat es zu überleben, wenn man keine Ahnung hat, was wirklich zählt?«
Sie näherten sich den Tischen. Holle lauschte den kurzen Befragungen und bekam einen ungefähren Eindruck davon, was hier vorging. Jede Person wurde von einem Polizisten und einer Ärztin, wie es schien, ins Verhör genommen. Sie notierten den
Namen, stellten Fertigkeiten fest und führten einen flüchtigen Gesundheitscheck durch. Eine Identifizierung nach biologischen, retinalen oder anderen Merkmalen fand nicht statt. Wenn man irgendwelche Papiere hatte, zeigte man sie vor. Die ganz Alten, die ganz Jungen und die Behinderten wurde in einer Kolonne zu einer Reihe von Hütten am Straßenrand geführt. Sonderbehandlung vielleicht. Die relativ Jungen und Gesunden sortierte man in zwei Gruppen. Eine wurde in einen Hof gebracht, wo man ihnen Waffen aushändigte, wie Holle sah – nur Knüppel, Spieße und Messer, keine Schusswaffen –, und ihnen ein rudimentäres Kampftraining angedeihen ließ. Die andere wurde auf dem gesperrten Highway zu den provisorischen Befestigungsanlagen geführt. Ein Bautrupp?
Mrs. Green trat vor Holle an den Tisch und wurde als zu alt zum Bauen oder zum Kämpfen eingestuft. Darum wurde sie der vierten Kolonne zugeteilt – dem »Ehrenkorps«, wie der Polizist es nannte. Er gab ihr ein Abzeichen zum Anstecken. Sie lächelte Holle an. »Sieh einer an, mein eigenes kleines Abzeichen. Sogar mit Sternenbanner.«
»Passen Sie auf sich auf, Mrs. Green.«
»Ich glaube, dafür ist es zu spät, Engelchen. Viel Glück.«
Holle trat an den Tisch vor. Der Polizist musterte sie. Er war vielleicht vierzig Jahre alt und hatte eine blau-rote Narbe auf einer Wange. Er trug eine Uniform, jedoch ohne ein Abzeichen oder eine andere Erkennungsmarke. »Name?«
»Holle Groundwater.«
Er lachte nur. »Die vierte heute. Hast du Papiere?«
»Nein.«
»Da rüber zur ärztlichen Untersuchung.«
Sie erwog, sich zu weigern, auf ihren Rechten zu bestehen, aber sie war von Leuten mit Schusswaffen und Schlagstöcken
umgeben. Sie trat einen Meter nach links, wo die Frau, die wie eine Ärztin aussah – sie war nicht älter als dreißig –, sie anlächelte. Die Frau krempelte Holles Ärmel hoch, fühlte ihr den Puls, maß ihren Blutdruck, nahm eine winzige Blutprobe und ließ sie in einen Beutel pusten.
Der Polizist redete weiter. »Wahrscheinlich erzählst du mir gleich, deine Kumpels seien mit der Air Force One weggeflogen und hätten dich
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