Die Letzte Arche
mit dir. So ist’s gut …«
Sie stützte sich auf den Arm der Fremden, kam auf die Beine und schaffte es, ein, zwei Meter von der vorrückenden Linie wegzutaumeln. Aber jetzt war sie fast schon beim Lastwagen.
»Alles in Ordnung, Engelchen?« Die Frau, die ihr aufgeholfen hatte, war vielleicht sechzig Jahre alt, stämmig, mit einem Wust grauer Haare. Sie war in einen schweren Mantel gehüllt und trug einen Rucksack auf dem Rücken und festes Schuhwerk an den Füßen. Sie zumindest war auf diesen Tag vorbereitet gewesen.
Holle sagte: »In Ordnung? Ich …«
»Ich weiß. Bei wem ist heutzutage schon noch alles in Ordnung, was? Und jetzt ist es so weit gekommen.« Die Frau kletterte eine kurze Trittleiter zur Ladefläche des Lastwagens hoch. Sie langte nach unten und half Holle herauf. »Ich habe mit meinem Mann hier gelebt, schon vor der Flut, weißt du. Es war unser erstes Zuhause, aber wir hätten nie gedacht, dass wir hierbleiben würden. Irgendwas Schöneres in einem der Vororte, wenn wir’s uns leisten konnten. Davon haben wir geträumt. Und ein Traum ist es auch geblieben. Aber ich beklage mich nicht, und das hat Herb auch nicht getan, bevor ihn Fünfunddreißig die Schwindsucht dahingerafft hat. Wir hatten es besser als viele in dieser leidgeprüften Welt, nicht wahr?«
Weitere Zivilisten kletterten herauf, und die Soldaten schlossen die Ladeklappe. Holle schaute sich nach dem jungen Latino um. Er stand immer noch auf der Straße, umringt von Soldaten. »Was machst du da?«, rief sie.
Er zuckte die Achseln und trat einen Schritt vor. Sein Bein war verkrüppelt, und er hinkte stark. »Kann nicht laufen, kann nicht arbeiten. Konnte ich nie. Sonderbehandlung für mich. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«
Der Motor des Lkws erwachte hustend zum Leben, und der Wagen fuhr ruckartig an. Als Holle zurückschaute, sah sie, dass die Soldaten darangingen, die Razzia im nächsten Block zu wiederholen, mit ihrem Netz, ihren Hunden und einem weiteren leeren Lastwagen. Und der Latino wurde weggeführt, dorthin, wo es dunkel war.
Holle stand mit den anderen hinten auf dem schwankenden Lastwagen. Der schwache Gestank der Biotreibstoff-Abgase stieg ihr zu Kopf, während sie nicht süd- und westwärts zur I-285 und nach Gunnison, sondern in die entgegengesetzte Richtung gefahren wurde, auf der East Colfax nach Osten und dann auf der Quebec Street nach Norden zur I-70, der Hauptroute aus dem Osten. Nach ein paar Blocks reihten sie sich in einen größeren Konvoi aus Lkws ein, die hauptsächlich Zivilisten transportierten; ein paar waren jedoch auch mit Soldaten und Ausrüstungsgegenständen beladen.
Überall sah Holle Truppen im Einsatz. Nationalgarde, Army, Heimatschutz und Polizei führten geordnete Ströme von Zivilisten nach Westen, trieben weitere Ausrangierte wie ihre Begleiter zusammen und verwickelten Widerstandsnester in Feuergefechte. Einmal sah sie Schneepflüge, die von Bergstraßen, wo kein Schnee mehr fiel, heruntergebracht worden waren und nun Menschen durch die Straßen der Großstadt trieben. Und sie sah, wie in verlassenen Stadtvierteln Feuer gelegt und Minen ausgebracht wurden. In Sandown, nahe der Bahngleise, sah sie das plumpe Profil eines Panzers.
Mary Green, die ältere Frau, die ihr geholfen hatte, glaubte zu wissen, was die Regierung vorhatte. »Sie haben Denver jetzt aufgegeben. Alle sind nach Westen gegangen, und die Stadt dient nur noch dazu, diese Flüchtlingsströme aus dem Osten aufzuhalten,
die uns sonst nachjagen und alles wie Heuschrecken überschwemmen würden.«
»Deshalb bringen sie Minen aus? Um Menschen zu töten?«
»Na ja, die sollten nicht hier sein, nicht wahr?«, sagte Mrs. Green in nüchternem Ton. »Ganz egal, wo sie herkommen, das ist nicht ihr Zuhause und war es auch nie. Wir müssten erst in mehreren Monaten wegziehen, wenn das alles nicht wäre. Nein, sie hätten zu Hause bleiben und Flöße bauen sollen. «
»Wohin fahren wir?«
»Ich denke, das werden wir bald rausfinden, Engelchen.«
Der Lastwagen erreichte einen Zubringer zur I-70 und bog nach Osten ab. Auf der einen Spur, die offen gehalten wurde, waren Militärfahrzeuge unterwegs. Auf den anderen Spuren marschierten Ströme von Fußgängern unaufhaltsam nach Westen, beaufsichtigt von Soldaten und Cops in Pkws und Lkws.
Sie erreichten die Kreuzung der I-70 mit der E-470, Denvers zusammengestückelter Umgehungsstraße. Die Kreuzung war jedoch mit Dynamit gesprengt worden, die Überführungen waren
Weitere Kostenlose Bücher