Die letzte Aussage
Archie hat einen Nintendo DS und ungefähr fünfzig Spiele dafür. Archie verbringt 100 Prozent seiner Zeit damit, cool aussehendes Zeug zu spielen. Aber er fragt nie, ob ich auch mal spielen will. Ich mache weiter mit Putzen und Bügeln, aber meine Begeisterung lässt rasch nach. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wieso ich überhaupt damit angefangen habe.
Dummerweise stecke ich gerade mitten in einer größeren Aufgabe. Im ersten Stock gibt es ein Zimmer voller Bücher, und ich habe blöderweise beschlossen, sie eins nach dem anderen herauszunehmen und den Staub abzuwischen. Es ist wirklich nicht gesund, so viel Staub im Haus zu haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man davon Lungenkrebs kriegen kann.
Also staube ich Bücher ab und kriege wahrscheinlich Lungenkrebs dabei, während Archie mitten im Zimmer über seinem DS hockt, Monster jagt und dabei Ballergeräusche von sich gibt, als wäre er ungefähr sechs Jahre alt.
Ich lasse es mindestens zehn Minuten über mich ergehen, dann sage ich: »Verzieh dich, Archie, du bist zu laut.«
Archie lacht und sagt nur: »Ich bleibe lieber hier. Ich hab noch nie einen Jungen beim Putzen gesehen. So was machen doch normalerweise Mädchen, oder? Hübsche, blonde, polnische Mädchen.«
»Halt die Klappe, du Schwachkopf.«
»Welche Jungs machen gerne Hausarbeit?«, bohrt er weiter. »Mir fällt’s bestimmt gleich ein. Bist du irgendwie behindert? Oder schwul?«
Ich habe gerade ein großes gebundenes Buch in der Hand – Geschichte des Kirchenrechts im Mittelalter –, und ich sehe zu, wie es im nächsten Moment in einem eleganten Bogen durchs Zimmer fliegt und auf Archies DS kracht. Leider ist Archie einen Sekundenbruchteil vor dem Aufprall seitlich weggetaucht. Hoffentlich hat er wenigstens eine Lunge voll tödlichem Staub abgekriegt.
»Reg dich ab, reg dich ab«, sagt Archie und droht mir mit dem Zeigefinger. »Pass lieber auf, denn wenn du mir was antust, musst du dich wieder bei mir entschuldigen.«
Ich knirsche mit den Zähnen und fange mit dem nächsten Regal an.
Archie macht seinen DS aus. »Ich kann’s echt nicht glauben, dass du mein Cousin bist«, sagt er. »Du bist so was von Prolo.«
»Bin ich nicht«, erwidere ich. Ich bin nicht mal beleidigt deswegen, weil ich weiß, dass Archie keine Ahnung vom Klamotten- und Verhaltenscode unter Prolos hat. Er hält es einfach für eine allgemeine Bezeichnung für jeden, der ärmer ist als er, was auf ungefähr neunzig Prozentder britischen Gesellschaft zutrifft. Auf der St. Saviours gab es viele Typen wie ihn.
Er kräht vor Lachen. »Doch, bist du. Und meine Mum hat gesagt, dass deine Mum –«, aber er hat keine Chance, den Satz zu beenden, weil ich schon bei ihm bin und ihm Große militärische Fehlschläge im 19. Jahrhundert auf den Schädel haue, als wollte ich eine Fliege erschlagen.
»Au!«, kreischt er, dann trampelt er die Treppe runter und schreit: »Opa, Gran … er hat mich wieder geschlagen!«
Tja, und dann geht alles wieder von vorne los. Meg bellt wie bescheuert, Helen gluckt um Archie herum und untersucht seinen Kopf – ich hoffe nur, dass ich ihm den Schädel eingeschlagen habe –, und Patrick taucht aus seinem Arbeitszimmer auf und sagt mir genervter Stimme: »Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Er hat mir ein Buch auf den Kopf gehauen«, quäkt Archie. »Das hat richtig wehgetan.« Patrick meint dazu nur: »Er erinnert mich wirklich an seinen Vater. Sei froh, dass deine Nase noch dran ist.«
Dann brüllt er nach mir und ich komme runter und muss mich wieder bei Archie entschuldigen. Mir ist das alles schnurzegal, und ich sehe, dass Patrick es auch weiß. »Es tut mir sehr leid, Archie, dass ich dich mit einem gebundenen Buch geschlagen habe«, sage ich. »Beim nächsten Mal nehme ich nach Möglichkeit ein Taschenbuch.«
Um die Wahrheit zu sagen, sind meine Auseinandersetzungen mit Archie das Einzige, was mich hier vor demDurchdrehen bewahrt. Ich werde sonst noch verrückt, so eingepfercht in diesem Haus. Mir ist heiß und kalt und ich habe meistens Kopfweh, mein ganzer Körper tut weh und ist aus Mangel an Bewegung schon ganz steif. Meg fängt manchmal zu jaulen an, wenn sie will, dass Patrick mit ihr spazieren geht. Sie trippelt hin und her und kratzt an der Haustür. Genau so fühle ich mich.
Patrick gähnt und sagt: »Tyler, komm her und sprich mit mir«, dann marschiert er wieder in sein Arbeitszimmer. Ich überlege, ob ich ihn einfach ignorieren und nach oben
Weitere Kostenlose Bücher