Die letzte Aussage
Patrick.
»Muss er hierbleiben?«
»Sieht so aus«, antwortet er. »Ich glaube, es könnte für Archie und dich ganz interessant sein, einander etwas besser kennenzulernen. Ihr seid beide ohne Geschwister aufgewachsen.«
»Ich will ihn überhaupt nicht kennenlernen.«
»So wie es aussieht, bleibt dir nichts anderes übrig«, brummt er. »Ihr habt wahrscheinlich mehr gemein, als euch lieb ist.«
Ich glaube nicht, dass ich mit diesem verzogenen Rotzlöffel irgendetwas gemein habe.
»Ty«, sagt er, »ich weiß, dass du mich wegen dem Computer und dem Telefon für diktatorisch hältst, und es tut mir leid, wenn du dich hier nicht richtig zu Hause fühlst. Aber Louise hat gesagt, kein Kontakt nach außen, und das heißt auch, keine Mails und keine Anrufe, und nach allem, was ich von Teenagern und dem Internet weiß, wäre es mir lieb, wenn du dubiose Chatrooms und illegale Downloads unterlassen würdest.«
»Ja, aber …«
»Ich vermute, dass sich in letzter Zeit so viel in deinem Leben verändert hat, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn du dich plötzlich … wie soll ich es ausdrücken … disziplinlos aufführen würdest. Wenn du anfangen würdest, Leute zu schlagen, Dinge an dich zu nehmen, die dir nicht gehören, und so weiter … weil dir im Vergleich zu dem, was du gesehen und erlebt hast, alles andere nicht mehr wichtig vorkommt. Verstehst du, was ich meine?«
Ich bin nicht ganz sicher. Ich konzentriere mich darauf, Megs weiche Ohren zu streicheln. Er hat recht damit, dass die Dinge, als ich Joe war, ein bisschen außer Kontrolle geraten sind. Aber ich weiß nicht genau, worauf er damit hinauswill.
»Ich glaube, du brauchst mich, damit ich dir klare Grenzen aufzeige«, fährt er fort. »Nach allem, was mir Louise erzählt hat, sind weder Nicki noch Julie jemals streng mit dir gewesen. Hat dir überhaupt schon mal jemand Disziplin beigebracht?«
Ich weiß nicht genau, was er damit meint. Will er mich schlagen? Gran hat nie mit mir geschimpft, aber sie hat auch keinen Grund dazu gehabt. Ich bin immer zu ihr gegangen, hab dort zu Abend gegessen, meine Hausaufgaben gemacht und Fernsehen geguckt, was gibt es daran auszusetzen? Nicki hat mich ziemlich grundlos angeschrien, aber nicht sehr oft, und ich habe gelernt, den Kopf einzuziehen und das zu sagen, was sie hören wollte. Diese Taktik hat auch in der Schule ganz gut funktioniert. Arron hat mich immer ausgelacht, weil ich so ein braver Junge war.
Einer der Freunde meiner Mum, Chris, der Klempner, war der Meinung, ich brauche eine strenge Hand und mehr Disziplin. Er hat mich immer rumkommandiert und angeschrien, deshalb hatte ich ein bisschen Angst vor ihm. Ich weiß noch, dass wir einmal einen Ausflug mit ihm gemacht haben, und auf dem Heimweg ist er im Auto ausgerastet – »Das ganze Polster vollgekrümelt!« – und das ging immer so weiter, und am Ende hab ich etwas Warmes an meinem Bein gespürt und gemerkt, dass ich mich vollgepinkelt hatte. Damals war ich ungefähr fünf gewesen.
Nicki hat sich nach hinten gedreht und mein Gesicht gesehen und gesagt: »Ich sag dir was, Chris, wir setzen ihn bei meiner Mum ab, dann können wir uns zu zweit noch ein bisschen vergnügen.« Als wir bei Gran ankamen, hat sie Chris’ Autoatlas auf den nassen Fleck gelegt und ist mit mir zur Tür gerannt und hat gesagt: »Mum, kannst du ihn übers Wochenende nehmen? Danke«, und ist wiederzum Auto gerannt. Gran musste mich zu ihrem Salsa-Kurs mitnehmen, weil sie keinen Babysitter hatte. Chris habe ich nie wieder gesehen.
Danach hat mich Mum ihren Freunden oft gar nicht mehr vorgestellt. Wenn sie sich mit jemandem verabredet hat, hat sie mich meistens zu Gran verfrachtet. Manchmal wussten die Freunde überhaupt nichts von mir, manchmal erzählte sie ihnen, ich sei ihr kleiner Bruder. Es hat ohnehin nie lange mit ihnen gedauert.
Patrick faltet sich aus dem Sessel und baut sich vor mir auf. Aus dieser Perspektive sieht er wie ein Riese aus. »Ich rede gleich mit Helen und Archie, und dann möchte ich, dass du dich bei ihnen entschuldigst«, sagt er. »Kriegst du das hin, was meinst du?«
Mich bei Archie entschuldigen? Bei Archie ? Er macht wohl Witze. Aber ehe ich ihm antworten kann, ist er schon draußen.
Ich schaue den Computer an und überlege, ob Claire zurückgeschrieben hat. Jetzt nachzusehen, wäre wohl ziemlich dumm. Schon kommt Archies Mum herein. Sie hat ein breites Lächeln auf dem Gesicht, und mir ist sofort klar, dass ich ihr jetzt nicht
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