Die letzte Aussage
schon eine Million Mal gewesen! Wenn ich hier aussteigen, an der Bowlingbahn vorbeigehen und die Blackstock Road runtermarschieren würde, könnte mich jederzeit irgendeiner erkennen! Als der Zug also hier hält, hab ich das Gefühl, als müsste ich jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Aber so weit kommt’s nicht. Ich konzentriere mich auf Claire. Ich mache das alles für sie. Ich werde sie finden.
Wir nehmen einen Bus bis Victoria Station. Sobald wir im Oberdeck sitzen, ganz vorne, wundere ich mich selbst darüber, dass mir das alles tatsächlich sogar ein bisschen Spaß macht. Oxford Street, Marble Arch, Hyde Park Corner. Ich habe ganz vergessen, wie gerne ich immer die vielen unterschiedlichen Leute angeschaut und mir bei dem Durcheinander der verschiedenen Sprachen überlegt habe, wo sie wohl alle herkommen. Mir war nie bewusst gewesen, dass es an anderen Orten in England keineswegs so ist.
An der Victoria Station gehe ich mit Archie zum Kartenschalter. Er hat an einem Automaten an Kings Cross Geld gezogen – jetzt kommt es uns zugute, dass er eine eigene Bankkarte hat – und zählt das Geld ab, das wir brauchen. Ich bin total aufgeregt und stelle mir Claires Gesicht vor, wenn sie mich sieht. Vielleicht haut sie ja mitmir zusammen ab. Wenn mir Archie ein bisschen Geld leihen würde, könnten wir vielleicht nach Irland …
Dort würde ich als Putzmann arbeiten.
»Ich hab einen tierischen Hunger«, sagt Archie. »Bleib hier. Ich hol was zu futtern.« Er drückt mich auf eine Bank, stellt unsere beiden Taschen neben mich und sagt: »Bin gleich wieder da.«
Ich warte und warte, aber er taucht nicht mehr auf. Langsam werde ich nervös. Ich kenne Archie kaum, ich mag ihn nicht mal besonders. Was mache ich, wenn er mich im Stich gelassen hat? Was, wenn er einfach nicht mehr zurückkommt? Wenn er es für besonders witzig hält, mich hier sitzen zu lassen, während er zur Londoner Wohnung seiner Eltern fährt?
Scheiße. Ich bin mir sicher, dass genau das passiert ist. Dieser Schwachkopf. Ich habe kein Handy und auch von niemandem die Nummer. Ich habe keine Adressen dabei. Ich habe kein Geld. In dieser Stadt gibt es Leute, die mich umbringen wollen. Archie hat die Fahrkarten für den Bus. Warum habe ich diesem Blödmann bloß vertraut? Warum?
Ich zittere ein bisschen. In meiner Brust pfeift es beim Atmen und mein Knöchel tut wieder weh. Ich versuche, an Claire zu denken, aber ich sehe immer nur Patricks Gesicht vor mir, nachdem er herausgefunden hat, dass wir weg sind. Er ist bestimmt stinksauer. Und wahnsinnig enttäuscht.
Was soll ich denn jetzt bloß machen? Als ich noch sehr klein war, hat Gran immer gesagt, ich soll einen Polizistensuchen und ihm sagen: »Ich habe mich verlaufen.« Nachdem sich diese Erinnerung festgefressen hat, höre ich in meinem Kopf nur noch meine Stimme, als ich fünf war und für diesen Fall geprobt habe: Ich habe mich verlaufen … Ich habe mich verlaufen … Ich … bloß dass Gran nicht auf die Idee gekommen ist, dass ich in meinem Leben einmal einen Punkt erreiche, an dem ich nicht gerade darauf versessen bin, mit der Polizei in Kontakt zu treten.
Gerade als ich aufstehen und ihn suchen gehen will, kommt Archie wieder . Herrgott noch mal! Ich bin so erleichtert, dass ich ihn am liebsten küssen würde. Aber nur fast.
»Da war ’ne ewig lange Schlange«, sagt er. »Los, komm, wir haben nur noch fünf Minuten.« Schon rennen wir zur Bushaltestelle und springen in den Bus.
Sobald wir auf der Rückbank sitzen, überlege ich, wie viel Zeit uns noch bleibt. Ich vermute, dass Archies Eltern das ganze Land mit Fotos von ihrem verloren gegangenen kleinen Liebling vollpflastern. Ich kann nur hoffen, dass meine Mum begreift, wie gefährlich das für mich wäre. Vielleicht lässt sie mich einfach in Ruhe. Vielleicht … aber wenn meine Mum erst einmal von einer Idee überzeugt ist, hält mein Dad schon allein aus Prinzip das Gegenteil für richtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich jemals bei irgendetwas einig sind.
Ich stupse Archie an, der Kartoffelchips und Sandwiches aus einer Plastiktüte hervorkramt.
»Archie, was meinst du – sollen wir sie anrufen? Einfach nur sagen, dass es uns gut geht?«
»Käse oder Thunfisch?«, erwidert er. »Nein, meine ich nicht. Spinnst du? Nein, diese Frage bitte nicht beantworten. Nimm den Thunfisch. Sind Chips mit Salz- und Essig-Geschmack okay?«
Ich nicke, esse das Sandwich und sehe zu, wie London hinter der Scheibe in graue
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