Die letzte Aussage
mit keinem von uns etwas zu tun. Ich spüre, wie mir total heiß wird – wahrscheinlich bin ich knallrot angelaufen –, so als hätte er mich unsittlich angefasst.
»Was haste denn Schönes dabei?«, fragt er. Genau wie Arron Rio, den Jungen im Park, gefragt hat. Das sagt man, wenn man jemanden abziehen, ihm sein Handy oder seinen iPod abnehmen will. Es geht nicht darum, dass man die Sachen haben will. Es geht nur darum zu zeigen, wer das Sagen hat. Und momentan hat er das Sagen.
»Äh …« Ich suche in meiner Tasche und ziehe Archies Handy heraus. Er steckt es ein und sein Kumpel lacht und sagt: »Was noch?«
Sonst habe ich nur noch Geld. Ich beuge mich vor und ziehe das Bündel mit den Scheinen aus meiner Hosentasche und gebe es ihm. Als er es nimmt, berühren sich unsere Hände, und ich ziehe meine Finger schnell wieder zurück. Vielleicht kommt meine Bewegung für ihn unerwartet, jedenfalls fällt das Messer auf den Boden und wie aus dem Nichts knallt er mir die Faust mitten ins Gesicht.
Mein Hinterkopf schlägt gegen die Fensterscheibe und der Schmerz fährt mir bis in die Stirn. Ich höre sie lachen und die Stufen nach unten trampeln, dann hält der Bus an und fährt wieder los.
Ich liege auf dem Sitz, schmecke Blut im Mund und halte mir das Auge zu und frage mich, ob er es mir ausgeschlagen hat. Nach und nach werden die verschwommenenBuslichter wieder heller und ich kann wieder sehen. Ich setze mich auf und würge ein bisschen. Ich zittere, aber diesmal hat es, glaube ich, nichts mit der Kälte zu tun, denn es ist affenheiß im Bus. Eine ältere Frau kommt aufs Oberdeck, wirft mir einen kurzen Blick zu und marschiert direkt wieder nach unten.
Der Bus macht eine scharfe Linkskurve und das Messer unter meinem Sitz rutscht klappernd über den Boden. Ich lange nach unten und stecke es in die hintere Hosentasche, denn wenn jetzt noch jemand kommt und fragt: »Was haste denn Schönes dabei?«, kann ich ihm überhaupt nichts mehr geben.
Dann sind wir an der Endstation angekommen und ich steige aus. Ich weiß jetzt, wo ich bin, und ich weiß auch, warum ich dort bin. Ich bin wieder zu Hause.
Kapitel 19
Laufen
Mein Gesicht pocht und auf meinem Kinn trocknet Blut. Mein Kopf tut höllisch weh und ich muss tierisch pinkeln. Ich bin nervös wie sonst was, denn ich weiß, dass ich geliefert bin, wenn ich hier von den falschen Leuten gesehen werde. Dann können sie mich hier nur noch tot abholen. Trotzdem tut es richtig gut, durch die Straße zu gehen, in der ich einmal gewohnt habe.
Ich komme an unsere alte Haustür und drücke die Nase ans Schaufenster des Ladens. Ich bin selbst wie ein Geist.
Als ich das letzte Mal hier war, hat es überall widerlich nach Benzin und Rauch gestunken, brennende Zeitschriften haben geknistert und schmelzendes Konfekt hat gezischt. Das Schaufensterglas war in lauter kleine Diamanten zersplittert und die Straße von einem flackernden gelben Schein erleuchtet.
Jetzt ist alles dunkel und ruhig, kaum vorstellbar, dass das damals wirklich passiert ist. Mr Patel hat sogar seine große Auswahl an Fertignudelsuppen ins Schaufenster gestellt. Mit ein bisschen Mühe kann ich mir vorstellen, wie ich die Treppe zu unserer Wohnung hinaufgehe. Zurückin die Zeit, als ich noch ein Zuhause hatte. Zurück in die Zeit, als ich noch ein richtiges Leben hatte.
Auf einmal tippt mir jemand energisch auf die Schulter. Oh Gott. Ich wirbele herum, meine Hand fliegt zur hinteren Hosentasche – aber als eine Stimme sagt: »Was machst du um diese Zeit noch hier draußen, mein Junge?«, zögere ich.
Meine Hand erstarrt mitten in der Bewegung. Polizei. Damals hat man in der Nacht keinen einzigen Polizisten auf unserer Straße gesehen, das war viel zu gefährlich, aber vielleicht hat sich ja einiges geändert.
Es sind sogar gleich zwei. Ein alter und ein junger. Sie betrachten mich von oben bis unten, dann sagt der Jüngere: »Kennen wir uns nicht?«
»Nein … Sir …« Vielleicht ist er damals, als ich meine erste Aussage gemacht habe, auf dem Polizeirevier gewesen.
»Was ist denn mit dir passiert, Junge?«, erkundigt sich der ältere. »Du siehst aus, als wärst du vermöbelt worden.«
»Schon in Ordnung.«
»Soll ich einen Krankenwagen rufen? Oder deine Familie verständigen?«
»Nein, vielen Dank. Ich gehe nur nach Hause.«
»Wo ist das denn?«
Gute Frage. Am liebsten hätte ich gesagt: »Direkt hier«, und wäre verschwunden. Ich weiß nicht mal, ob inzwischen andere Leute in unserer
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