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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keren David
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Wohnung wohnen. Bei dem Gedanken wird mir richtig komisch. Ich mache eine vage Handbewegung und sage: »Richtung Stamford Hill.«
    »Aha«, meint der jüngere Polizist. »Das ist ja ziemlich weit weg. Was hast du um diese Uhrzeit hier zu suchen?«
    Ich zucke die Achseln. »Bin nur auf dem Heimweg.«
    »Warum hast du so interessiert in dieses Schaufenster geschaut?«
    »Hmm. Nur so.«
    »In diesem Laden hat es neulich ziemlich Ärger gegeben«, sagt er. »Vor ein paar Monaten hat es hier gebrannt. Weißt du etwas darüber?«
    »Nö.« Ich weiß, dass ich nicht besonders überzeugend klinge.
    »Wir müssen dich durchsuchen, du verhältst dich verdächtig«, sagt er und fängt auch schon an, irgendwas von einer ihm durch einen parlamentarischen Beschluss verliehenen Befugnis zu labern und wie er heißt und von welchem Polizeirevier er kommt – als ob mich das interessieren würde –, und die ganze Zeit über spüre ich, wie das schwere Messer meine Hosentasche nach unten zieht.
    »Na schön, Junge«, sagt der Ältere. »Es dauert ja nicht lange.« Er kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu, aber ich ducke mich darunter hinweg. »He! Halt!«, ruft er noch, aber ich renne schon auf die Hauptstraße, am Kebab-Laden und auch am Tattoo-Studio vorbei. Beide rennen hinter mir her, aber ich bin schneller als sie, ich kann schneller als sonst jemand laufen und bin schon in eine Seitenstraße eingebogen, über eine niedrige Mauer drüber und im Park, wo sie mich nicht mal mehr sehen können.
    Mein Knöchel tut wahnsinnig weh und ich huste wie bescheuert, aber sie sind weg und das Messer haben sie auch nicht gefunden, und wenn der Husten vorbei ist, ist alles wieder in Ordnung.
    Ich bin schon hunderttausendmal in diesem Park gewesen. Ich kenne ihn in- und auswendig, aber als ich das letzte Mal hier war, ist Rio umgebracht worden. Ich dachte, ich komme nie wieder hierher, schon gar nicht um drei Uhr in der Nacht, wo alles so dunkel und kalt ist. Falls es Geister gibt, dann sind sie garantiert hier.
    Allmählich gewöhnen sich meine Augen an das Mondlicht. Ich bin direkt an der Stelle, wo es passiert ist. Wo Rio gestorben ist und alles mit einem Mal ganz anders war. An einem Baum sind ein paar Sträuße mit vertrockneten Blumen festgebunden. »Unser geliebter Sohn und Bruder« steht auf einem Zettel, »Ruhe in Frieden, tapferer Krieger« auf einem anderen. Das ist der Ort, von dem ich geflohen bin, und genau hierher bin ich wieder zurückgerannt. Aber es ist kein Ort, an dem man sich aufhalten sollte.
    Dann höre ich es. Ein unheimliches Jaulen, wie ein Klagegeheul, als weinte jemand um Rio und Arron und um uns alle – und ich bin es nicht, denn ich habe die Hand fest auf den Mund gepresst. Ich schmecke das Salz auf meiner Haut und zittere am ganzen Körper, dann sinke ich auf die Knie. Ich kann unmöglich zurück, die Polizisten suchen garantiert noch nach mir. Ich habe Angst vor dem nächsten Ort, zu dem ich unterwegs bin. Aber dieses Geheul ist unerträglich.
    Das Messer wiegt schwer in meiner Tasche, zieht mich nach unten, will mich hierbehalten. Ich kann den Gedanken daran, dass es da ist, kaum ertragen. Ich habe zu viel Schiss, ohne es weiterzugehen, aber dann denke ich daran, wie das Blut aus Arrons Arm gespritzt ist, und weiß, dass ich das Messer loswerden muss.
    Ich will es in die Büsche werfen, überlege es mir aber gerade noch rechtzeitig anders. Das hier ist ein Kinderspielplatz. Was ist, wenn ein kleines Kind es entdeckt und herausfindet, wie man es aufschnappen lässt? Schließlich werfe ich es in einen Behälter für Hundekacke. Dort müsste es eigentlich sicher sein.
    Dann, als ich mich umdrehe, merke ich, dass mich jemand direkt ansieht. Zwei dunkle Augen leuchten im Dunkeln zu mir herüber, ein lange, behaarte Schnauze … ich halte die Luft an und mein Herz schlägt gleich mehrere Saltos. Meg! Wie hat sie mich bloß hier gefunden? Patrick?
    Worte purzeln in meinem Kopf hin und her … Halluzination … du Blödmann … du Schwachkopf … aber dann blinzeln die Augen, und ich weiß, was es ist. Ein Fuchs, ein wunderschöner wilder Fuchs, etwas, das ich an London am allermeisten mag.
    Wir sehen einander bloß einen Augenblick lang an – wahrscheinlich hat er vorhin den Mond angeheult – und ich strecke die Hand aus. Es wäre toll, einen Fuchs als – nein, nicht als Haustier, sondern als Freund zu haben. Jemanden, mit dem man laufen kann. Jemand, der ein bisschen zuverlässiger als die meisten Menschen

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