Die letzte Dämmerung: Roman (German Edition)
daran zerbrochen. War nicht davongelaufen, obwohl das selbst bei einem Mann, der doppelt so alt war wie er, nachvollziehbar gewesen wäre.
John hatte recht. Wir sind ein Rudel.
Er tätschelte ihr den Rücken, als wüsste er nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte. »Geht’s gut?«
Sie nickte. »Hör mal, ich hole mir ein paar Decken und mache es mir hier oben bequem. Von dieser Seite kann man die Außentür sehen.«
»Um Ausschau nach ihm zu halten«, sagte Tru.
»Ja. Willst du dich zu mir setzen?«
»Ich muss mich ja nicht mehr im Keller rumtreiben, also könnte ich das tun.«
Bitte. Ich will diese Wache nicht allein halten.
Vielleicht sah er ihrem Gesichtsausdruck etwas von der Hilfsbedürftigkeit an, die sie durchströmte. Er nickte knapp. »Bleib du hier. Ich hole alles, was wir brauchen.«
Jenna wandte sich wieder den Fenstern zu und wünschte sich mit aller Macht, dass John zwischen den Bäumen hervorbrechen und über die weiße Fläche aus aufgewühltem Schnee gestolpert kommen würde. Das tat er nicht.
Tru hielt bis zum späten Abend mit ihr Wache. Sie redeten nicht. Irgendwann nach Mitternacht schlief er ein. Am frühen Morgen erschien Chris in der Tür und blieb eine Weile dort stehen.
Jenna drehte sich schwerfällig um. Ihr Kopf fühlte sich trüb und benebelt an. »Brauchst du irgendetwas?«
»Du solltest ins Bett gehen.«
»Tätest du das? Wenn es jemand wäre, den du liebst?«
Chris sah auf seine Hände hinab. »Möchtest du Tee?«
Es war ein Angebot, wie Ange es gemacht hätte. Seiner grauenvollen Miene nach zu urteilen wusste er das auch. Jennas Herz zog sich zusammen.
»Klar.« Der Tee würde helfen, sie wachzuhalten. Durch die Entbehrungen war sie ihre Zucker- und Koffeinsucht losgeworden, also reichte inzwischen schon eine geringe Menge aus, damit sie wieder auf Draht war.
»Es fühlt sich gut an, überhaupt etwas zu tun«, sagte Chris, als er ihr das Getränk brachte.
Sogar ihre müden Augen konnten sehen, dass er schwer an seinem Versagen trug. Vielleicht hatte er das Gefühl, dass er mehr hätte unternehmen müssen, um irgendwie als Held des Tages Verluste zu verhindern. Das war nicht logisch, aber irgendetwas hatte ihn verändert – ob nun der Kampf oder der Verlust, das konnte Jenna nicht wissen. Chris’ Feuer war erloschen, und er war nicht mehr auf dieselbe Art hinter Antworten her. Er war nicht mehr der Mann, dem sie gelauscht hatten, als er ohne Hoffnung, gehört zu werden, in ein Funkgerät gesprochen hatte.
Sie fasste keinen ihrer Gedanken in Worte. Das hätte keinen Sinn gehabt, da er schon genug Sorgen hatte. Jenna hob den Becher und trank einen großen Schluck.
Instinktiv drehte sie sich um. Schmerz und Erschöpfung verschwanden, als hätte sich eine Tür in ihrem Herzen geöffnet.
John.
Sie reichte Chris rasch den Becher und rannte zum Fenster. Da war er und wankte auf die Station zu. Er fiel vor ihren Augen zweimal hin, während sie fürchtete, dass sie sich in ihrer Verzweiflung etwas einbildete. Aber nein. Er stand mit einer sturen Entschlossenheit wieder auf, über die niemand sonst verfügen konnte, nicht einmal jemand, den sie sich einbildete.
»Tru! Hoch mit dir! Wir sind noch nicht fertig, Soldat!«
»Was …«
»Wir müssen noch jemanden nach Hause holen.«
Er war so augenblicklich einsatzbereit, dass sie zugleich traurig darüber und dankbar dafür war. Gleichzeitig mit Jenna streifte Tru sich die Jacke über und packte sein Gewehr. »Ist er zurück?«
»Chris«, sagte Jenna auf dem Weg nach draußen, »bring uns die Decken. Wir gehen ihn holen.«
»Ich bin direkt hinter euch.«
Jenna raste, dicht gefolgt von Tru, nach unten, so schnell sie konnte.
»Mein Arm ist noch ein bisschen schwach«, sagte sie zu Tru. Obwohl sie jetzt viel schneller als früher genas, erholte auch sie sich nicht über Nacht. Aber die meisten ihrer Wunden sahen schon so aus, als hätten sie vier Tage Zeit zum Heilen gehabt. »Du musst seine rechte Seite übernehmen.«
Tru nickte. »Verstanden.«
Er öffnete die Schlösser mit aus Übung gewonnener Schnelligkeit. Jenna stürmte hinaus und stolperte über den aufgewühlten, wieder gefrorenen Schnee. Von oben war es nicht zu sehen gewesen, aber John trug kein Gepäck bei sich. Keine Waffen, keine Munition. Noch nicht einmal die Axt. Zur Hölle, die Hälfte seiner Kleider war verschwunden. Er war von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt, als hätte er sich in Eingeweiden gewälzt. Der stinkende Schmutz war an seiner
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