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Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Barbery
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Es wäre eine Beleidigung zu glauben, bei Marquet hätte man sich damit zufriedengeben können, als Nachspeise ein paar dürftige Madeleines auf einen Teller zu legen und zur Verzierung Bohnen darüberzustreuen. Das Gebäck war bloß ein Vorwand für einen zerfließenden, mit einem Guß überzogenen Psalm aus Zucker und Honig, eine Fülle von Keksen, Eingelegtem, Glasuren, Crêpes, Schokolade, Weinschaum, Beeren, Eis und Sorbets, ein ständig wechselndes Spiel von Warm und Kalt, zu dem meine erfahrene, vor schierer Befriedigung schnalzende Zunge die wilde Gigue der ausgelassenen Bälle tanzte. Das Eis und die Sorbets hatten es mir ganz besonders angetan. Ich liebe Eis: Eiscremen, angereichert mit Milch, Fett, künstlichen Aromen, Fruchtstückchen, Kaffeebohnen, Rum; italienische Gelati, fest wie Samt, übereinandergeschichtet in den Aromen Vanille, Erdbeer oder Schokolade; Eisbecher mit einem Berg aus Schlagsahne, Pfirsich, Mandeln und allen möglichen passierten Früchten; einfache Stengel mit einem knackigen Überzug, fein und robust zugleich, die man auf der Straße genießt, zwischen zwei Rendezvous oder am Abend vor dem Fernseher, im Sommer, wenn klar ist, daß man auf diese und keine andere Weise ein bißchen weniger heiß, ein bißchen weniger Durst haben wird; Sorbets schließlich, gelungene Synthese aus Eis und Frucht, eine kräftige Erfrischung, die sich im Mund wie ein Gletscherstrom auflöst. Ein paar Sorbets, von ihren hausgemachten, präsentierten sich auch auf dem Teller, den man vor mich hingestellt hatte, eines davon ein Tomatensorbet, ein weiteres, sehr klassisches, mit Früchten und Waldbeeren, und als drittes schließlich ein Orangensorbet.
    Schon im einfachen Wort »Sorbet« nimmt eine ganze Welt Gestalt an. Machen Sie den Versuch und sagen Sie laut: »Möchtest du ein Eis?« und gleich hinterher: »Möchtest du ein Sorbet?« und stellen Sie den Unterschied fest. Ganz ähnlich, wie wenn man unter der Tür ein achtloses »Ich gehe Kuchen kaufen« hinwirft, wo man sich, ohne so salopp und banal zu sein, sehr gut zu einem kleinen »Ich gehe Patisseries holen« (die Silben schön getrennt: nicht Patissries, sondern Pa-tis-se-ries) hätte aufraffen und durch die Magie eines etwas altertümlichen, etwas preziösen Ausdrucks ohne große Anstrengung eine Welt von altmodischer Harmonie hätte schaffen können. Ein »Sorbet« anzubieten, wo andere nur »Eis« reichen (worunter der Laie sehr oft sowohl die mit Milch als auch die mit Wasser hergestellten Produkte einreiht), bedeutet also schon, sich für die Leichtigkeit zu entscheiden, die Raffinesse zu wählen, bedeutet, mit einem Luftbild aufzuwarten und den schwerfälligen Gang auf dem Boden zu verschmähen, wo die Sicht versperrt ist. Luft, ja; das Sorbet ist luftig, fast unkörperlich, es schäumt höchstens ein wenig im Kontakt mit unserer Wärme, dann verflüchtigt es sich im Hals, besiegt, ausgepreßt, verflüssigt, und hinterläßt auf der Zunge nur die charmante Reminiszenz an die Frucht und das Wasser, die darüber hinweggeflossen sind.
    Ich machte mich also über das Orangensorbet her, kostete es sachkundig, überzeugt, schon zu kennen, was ich aufspüren würde, aber trotz allem auf die stets wechselnden Empfindungen achtend. Und dann ließ mich etwas innehalten. Bisher hatte ich Wassereis immer mit der Seelenruhe dessen geschlürft, der seine Sache versteht. Doch dieses Orangensorbet hob sich von allen anderen ab durch seine extravagante Körnigkeit, seine übermäßige Wässerigkeit, als hätte man nur gerade einen kleinen Behälter mit ein wenig Wasser und einer gepreßten Orange gefüllt, woraus sich dann nach der vorgeschriebenen Zeit an der Kälte aromatische Eisstückchen gebildet hätten, rauh wie jede unreine Flüssigkeit, die man zum Gefrieren bringt und die ungemein an den Geschmack von zerstoßenem, klumpigem Schnee erinnert, den wir als Kinder direkt aus unseren Händen tranken, wenn wir an Tagen, an denen sich der Himmel weit und kalt über uns wölbte, draußen spielten. Genau das machte meine Großmutter im Sommer, wenn es so heiß war, daß ich manchmal den Kopf in den Gefrierschrank steckte und sie sich schwitzend und schimpfend große, klatschnasse Geschirrtücher um den Hals legte und auswrang, welche auch dazu dienten, einige lahme Fliegen zu erschlagen, die an Orten klebten, wo sie nichts zu suchen hatten. Wenn das Eis fest war, stürzte sie den Behälter, schüttelte ihn energisch über einer Schale, zerstieß den orangen

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