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Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Titel: Die letzte Fahrt des Tramp Steamer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Álvaro Mutis
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Uhr abends richteten wir uns auf Deck ein. Die Jamaikanerinnen brachten einen großen Krug mit ›vodka-amb-pera‹-Mischung, in der Eisstücke schwammen, um sie kalt zu halten. Jon begann seine Erzählung mit unpersönlicher, belegter Stimme, die eine gewisse Zurückhaltung und Mühe erkennen ließ – was um so verständlicher wurde, je mehr sich die Geschichte ihrem Ende näherte. »Sie kennen ja die Orinoko-Mündung. Ein höllisches Labyrinth, in einem der anstrengendsten Klimas, die ich kenne. Zudem war die Gegend damals ziemlich verlassen, und der Mangel an Ressourcen wurde alarmierend. Ich war noch nie dort gewesen. Hingegen schienen der algerische Obermaat und der Steuermann mit der Gegend vertraut. Letzterer kam aus Araba und war mehrmals den Fluss bis Ciudad Bolívar hinaufgefahren, wo wir die Maschinenteile löschen wollten. Angesichts der Schwierigkeiten, die die Seekarte im Detail ankündigte, zeigte er sich nicht weiter besorgt. ›Nur vor dem plötzlichen Anschwellen des Flusses in der Regenzeit muss man sich fürchten‹, erklärte er. ›Dann strömt er mit großen Bänken aus Schlamm, Wurzeln und Baumstämmen herunter, die innerhalb von Minuten die Durchfahrt versperren können. Aber derartiges Hochwasser kündigt jeweils das Hafenradio von Ciudad Bolívar aus an. Wir werden vorsichtig sein. Machen Sie sich keine Sorgen.‹ Genau in diesem Moment begann ich mir Sorgen zu machen. Ich weiß sehr genau, was in diesen Ländern der Satz ›Machen Sie sich keine Sorgen‹ bedeutet. Nämlich: ›Wenn uns etwas zustößt, kann man nichts dagegen tun, also lohnt es sich nicht, sich Sorgen zu machen.‹ Am späten Abend kamen wir vor San José de Amacuro an, und ich beschloss, in der kleinen Bucht zu ankern, um am frühen Morgen bei Tageslicht ins Delta einzufahren. Es regnete die ganze Nacht. Der Steuermann beruhigte uns mit der Erklärung, das heiße noch nicht, dass es auch im Landesinnern regne, wo der Orinoko das Hochwasser von seinen Nebenflüssen aufnahm. Um fünf Uhr morgens begannen wir durch denjenigen Arm ins Delta einzufahren, den die Karte als den fahrbarsten angab. Dort kreuzten wir die Anzoátegui. Es goss noch immer in Strömen. Wir hatten unser Radio auf den Hafensender eingestellt, der tatsächlich in regelmäßigen Abständen Meldungen über die Wetterlage in diesem Gebiet ausstrahlte. Um halb neun Uhr morgens kündigte er ein erstes, für die einfahrenden Schiffe völlig risikoloses Hochwasser an – es hatte sich in einen Arm ergossen, der weite Mangrovensümpfe speiste. Wenige Minuten später meldete sich der Sender wieder. Weit hinten am Horizont, über dem Ort, wo wir die Stadt vermuteten, wuchs ein Kumulonimbus mit seiner bekannten Ambosssilhouette heran, von dem beinahe pausenlos Blitze ausgingen. Langsam fuhren wir durch den engen, teilweise mit Bojen markierten Kanal weiter. Plötzlich begann das Schiff zu vibrieren, zunächst kaum wahrnehmbar, dann stärker, bis die Rumpfspanten knirschten und einen ohrenbetäubenden Lärm verursachten. Der Steuermann sagte, es handle sich um ein Anschwellen des Flusses, das jedoch, so wie das Wasser fließe, keine Schlammbänke mitzuführen scheine. Der Obermaat war weniger zuversichtlich und befahl der Mannschaft, bestimmte Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und die Rettungsboote bereitzuhalten. Plötzlich prallte das Schiff an etwas auf dem Grund und drehte sich ruckartig, bis es quer liegen blieb und der ganzen Gewalt der Strömung standhalten musste. Ich befahl, die Maschinen auf volle Kraft laufen zu lassen, um es wieder gerade zu richten, und als wir schon fast so weit waren, gab uns ein heftiger Stoß eine solche Schlagseite, dass die Schrauben hilflos im Leeren drehten. Ich ließ die Maschinen stoppen, und alle kamen an Deck. Das Schiff leckte rasch. Es hatte in der Mitte einen tiefen Riss und saß auf einer großen, zusehends anwachsenden Schlamm- und Pflanzenbank fest. Eins der Rettungsboote war unter dem Schiff zermalmt worden. Wir richteten uns so gut es ging im Einzigen ein, das uns noch blieb, und die Strömung trug uns in einem Schlammwirbel davon. Zum Glück staute dieselbe Bank, gegen die die Alción geprallt war, das Wasser. Eine halbe Meile weiter gelang es uns, das Boot unter Kontrolle zu bekommen. Vor unseren Augen barst der von der Strömung heftig durchgeschüttelte Tramp Steamer auseinander. Es war, als würde ein prähistorisches Tier von einem übermächtigen, gefräßigen Feind in Fetzen gerissen. Schließlich trieben die

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