Die letzte Fahrt des Tramp Steamer
beiden Teile in entgegengesetzter Richtung dem Ufer zu und verschwanden plötzlich je in einem Kanal, wie sie sich in Ufernähe bilden, wenn das Wasser den weichen Flussgrund aufwirbelt und aushöhlt. Um sechs Uhr abends kamen wir in Curiapo an. Die Behörden brachten uns im Militärposten unter und erlaubten mir, in Caracas anzurufen, um mit den Versicherern in Verbindung zu treten und erste Vorkehrungen zur Heimschaffung der Mannschaft zu treffen. So endete der Tramp Steamer, der noch immer in Ihren Träumen erscheint … und in meinen.«
Eine Weile schwieg ich. Ich dachte, wie Recht Iturri doch gehabt hatte, als er sagte, ich sei Zeuge der entscheidendsten Momente in der Geschichte der Alción und ihres Kapitäns gewesen. So sehr, dass ich sie noch wenige Stunden vor ihrem Schiffbruch gesehen hatte, als wir auf dem Küstenwachschiff der venezolanischen Flotte die Erlaubnis abwarteten, in See zu stechen. Diese Nacht mochte ich ihn nichts mehr fragen. Es blieb uns ja noch die nächste, bevor wir unser Ziel erreichten. Andererseits konnte ich mir unschwer ausmalen, wie für ihn alles geendet hatte. Nicht um meine Neugier zu befriedigen, sondern eher um ihm die Chance zu geben, die Geister auszutreiben, die seine introvertierte Baskenseele quälen mussten, verpflichtete ich ihn, mir in der folgenden Nacht das Ende seiner Geschichte zu erzählen. »Geschichten haben kein Ende, mein Freund«, antwortete er. »Diejenige, die mir widerfahren ist, wird enden, wenn auch ich ende, und wer weiß, ob ich dann nicht in andern Wesen weiterlebe. Morgen werden wir unser Gespräch fortsetzen. Sie waren ein sehr geduldiger Zuhörer. Ich weiß, dass jeder von uns beiden seinen Anteil Hölle auf Erden mitschleppt, und deshalb verpflichtet mich Ihre Aufmerksamkeit zu Dank, wie ein Großvater von mir zu sagen pflegte, der in Saint-Jean-de-Luz Lehrer war.« Als er an mir vorbeiging, um seine Kajüte aufzusuchen, sah ich auf seinen Zügen einen düsteren Schatten, der ihn älter aussehen ließ.
Als wir uns in der nächsten Nacht auf dem kleinen Deck trafen, sah man am Horizont schon die Helligkeit der Hafenbeleuchtung wie eine statische Feuersbrunst. Iturri ging gleich in medias res. Ich hatte den Eindruck, er wollte seine Geschichte bald zu Ende bringen, indem er die Schilderung seines eigenen Unglücks nur gerade streifte. Genau wie früher vermied er auch diesmal jede Wendung, die man als Selbstmitleid hätte auffassen können. Darin lag aber nicht das geringste Quäntchen Stolz. Er tat es allein aus Scham, aus dem, was die Franzosen des 18. Jahrhunderts so schön ›Höflichkeit des Herzens‹ nannten.
»In Caracas zitierten mich die Versicherer zu sich, um die Police der Alción zu studieren und die Matrosen und Offiziere zu entschädigen. Von dort aus schickte ich Warda und Bashur auch je ein Telegramm, in dem ich sie vom Schiffbruch unterrichtete. Eine angemessene Zeit wartete ich auf ihre Antwort, die aber ausblieb. Dieses absolute Verstummen begann mir Sorgen zu machen. Inzwischen wurde der Gedanke, nach Recife zu fahren, allmählich zu einer Besessenheit, die mich keinen Moment mehr in Ruhe ließ. Es war nun noch dringlicher und notwendiger geworden. Wie immer Wardas Zukunftsentscheidung sein mochte, die Vorstellung, sie nicht wiederzusehen, war mir unerträglich. Der Abschied in Kingston konnte nicht endgültig gewesen sein. In meinem Geist häuften sich die Dinge, die ich ihr während unseres gemeinsamen Lebens nicht gesagt hatte. Damals schienen sie mir ohne große Bedeutung, fast unnötig; unsere Mienen, unsere erotische Beziehung, unsere gemeinsamen Sympathien und Phobien machten Worte überflüssig. Doch jetzt wurde deren Macht wieder spürbar, ihre lästige Beharrlichkeit. Sie waren die Glieder, die eine neue Verbindung herstellen oder, von andern Elementen ausgehend, die vorherige verlängern würden. Das Ergebnis war, dass ich nach Beendigung der behördlichen Ermittlungen in Venezuela ein Flugzeug nach Recife nahm. Kennen Sie Recife?« Ich antwortete, ich sei zweimal dort gewesen und bewahrte eine unvergessliche Erinnerung an diese halb portugiesische, halb afrikanische Stadt, die für mich einen ganz eigenen Charme besitze. »Auch mich zog sie die ersten Male sehr an, als ich mit einem Tanker dort anlegte, der Chemikalien von Bremen brachte. Doch diesmal trugen gerade die Schönheit der Stadt, der Reiz ihrer Brücken, ihrer Plätze und Häuser, alles etwas ausgewaschen und beinahe am Einstürzen, dazu bei, mir die
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