Die letzte Flucht
Bernhards Kleiderschrank. Hören Sie, das Jackett ist uralt. Es hat noch diesen schrecklichen breiten Kragen; früher trug man mal so etwas. Es ist wirklich uralt. Wir hätten es schon längst zur Altkleidersammlung geben sollen. Bernhard hat es schon jahrelang nicht mehr getragen.«
»Es sollen Faserspuren dieses Jacketts an der Leiche des Kindes gefunden worden sein.«
Christine Leonhard-Voss fuhr sich mit der rechten Hand zweimal an der Halsaußenseite entlang, vier Finger, alle außer ihrem kleinen Finger, verschwanden hinter dem Ohr. Dann rutschte ihre Hand tiefer bis zur Halsvorderseite und rieb über die Drosselgrube. Die linke Hand glitt vom Knie hinauf zum Oberschenkel.
Was bedeutete diese Geste?
»Wenn ihr nicht wisst, was eine Geste bedeutet, dann macht sie nach und spürt, wie sie auf euch wirkt«, hatte Bill Branch, einer der Seminarleiter des FBI , zu ihnen gesagt. »Spiegelt euren Gesprächspartner, spürt es ihm nach – und ihr wisst, wie sich euer Gesprächspartner gerade fühlt.«
Dengler sah den waidwunden Blick der Frau. Er wollte ihre Geste nicht wiederholen. Er würde sich lächerlich dabei vorkommen.
»Das Jackett«, sagte Christine Leonhard-Voss in diesem Augenblick, »ich kann es nicht erklären. Was immer in Bernhard vorgegangen sein mag, dass er ausgerechnet dieses alte Ding angezogen hat – ich kann es mir einfach nicht vorstellen.«
»Kann es sein, dass er das Haus noch einmal verlassen hat, als Sie bereits geschlafen haben?«
»Auch das kann ich mir nicht vorstellen. Er sah ziemlich betrunken aus, wissen Sie. Und er schlief fest.«
»Würden Sie es hören, wenn er mit dem Wagen noch einmal fortgefahren wäre?«
»Wenn er die Garagentür geöffnet hätte – ich hätte es hören müssen.«
»Haben Sie es gehört?«
»Nein.«
Dann sagte sie leise: »Nichts habe ich bemerkt. Nichts. Ich habe nichts bemerkt. Können Sie sich das vorstellen?«
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21. Rüdiger Voss
Dengler fuhr mit der U2 von der Station Stadtmitte bis nach Pankow. Dort stieg er in die S2. Hinter Pankow, im Nordosten von Berlin, liegt Berlin-Buch.
Bereits auf dem Bahnsteig empfing ihn eine große Reklametafel: Willkommen in der Gesundheitsregion Berlin-Buch. Forschen, Heilen, Pflegen. Die Helios-Klinik warb bereits auf dem Stationsschild der Berliner Verkehrsgesellschaft. Als er die Treppe hinunter auf die Straße ging, sah er die weniger teure Werbung, die eher zu dem Stadtteil passte: Eine staatlich geprüfte Podologin bot auf einem handgeschriebenen Schild medizinische Fußpflege und die Entfernung von Hühneraugen an. Direkt daneben wurde für Trendnägel, Haarverlängerung und Wimpernverdichtung geworben.
Der Bus 351 brachte ihn auf den Campus der Charité, ein weiträumiges Areal mit unterschiedlichen Bauten, alte und neue Architektur in gelungenem Wechselspiel, keine Hochhäuser, eher zwei oder drei- als fünfstöckige Bauten. Viel Grün. Schmale Straßen. Alles wirkte ruhig und angenehm.
Rüdiger Voss war deutlich jünger als sein inhaftierter Bruder. Dengler schätzte ihn auf Anfang oder Mitte vierzig. Sein Gesicht war schmaler als das seines Bruders, die Haut gebräunt, eher in einem natürlich wirkenden olivfarbenen Ton als in einem, der auf die Benutzung von Solarien hindeutete. Das schwarze Haar trug er nicht kurz, aber auch nicht lang.Es war nach hinten gekämmt, und nicht ein einziges Härchen tanzte aus der Reihe, alle lagen perfekt nebeneinander, in gleicher Richtung und Länge. Nur auf dem Handrücken sträubten sich einige kurze schwarze Haare eigenwillig in verschiedene Richtungen, doch bereits auf dem Rücken von Zeige- und Mittelfinger lagen sie wieder fein und glatt. Es waren sehr feine, geradezu schlanke Hände. Dengler konnte sich gut vorstellen, wie sie mit schnellen, präzisen Schnitten einen Rumpf auftrennten. Ein paar wache, graue Augen musterten Dengler interessiert. Den weißen Arztkittel hatte Rüdiger Voss nicht zugeknöpft, darunter trug er ein weißes T-Shirt, hellblaue Jeans, die auf unaufdringliche Art teuer aussahen. An den Füßen sah Dengler dunkelblaue Socken und weiße Crocs, jene durchlöcherten Plastikschuhe, die in den Heilberufen so beliebt sind. Keine Frage, Rüdiger Voss war ein attraktiver Mann, er bewegte sich sicher und selbstbewusst, in raumgreifenden Schritten war er einen langen Gang Dengler entgegengeeilt und hatte seine Hand mit angenehm festem Druck geschüttelt.
Er führte ihn in ein Büro, das durch seine Kargheit und Enge nicht recht zu
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