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Die letzte Flucht

Die letzte Flucht

Titel: Die letzte Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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Finn hatte er keine Chance.
    Beide mochten den Tiergarten. Besonders im Frühjahr, wenn es blühte und die Wasserflächen von wolligem Baumsamen so dicht bedeckt waren, dass es wie eine brüchige Eisfläche aussah. Sie mochten die vereinzelten Männer, die hochkonzentriert Tai-Chi-Übungen ausführten, bestaunten die langsamen Bewegungen und fragten sich, warum es kaum Frauen gab, die diesen Sport ausübten. Sie mochten die wenigen anderen Jogger, die so früh unterwegs waren und deren Zahl im Sommer zunahm und sich im Winter drastisch reduzierte. Man kannte sich, aber man grüßte sich selten. Finn und Daniel mochten die Hundebesitzer, die ersten Spaziergänger, die Liebespaare, die Angestellten der Botschaften, die schon so früh zielbewusst ihrer Arbeitsstelle entgegenstrebten. Sie mochten den Tiergarten.
    Aber heute war etwas anders. Es hatte sich etwas Grundsätzliches zwischen ihnen geändert, das sie beide überraschte und das sich vollständig von ihrer bisherigen Routine abhob.
    Beim Abschlussspurt lief Daniel wie sonst auch einige Schritte hinter Finn. Als sie zum Finale ansetzte, erhöhte er ebenfalls das Tempo. Jahrelang war sie auf dieser Strecke uneinholbar davongezogen. Aber heute hielt er ihr stand, blieb auf der gleichen Distanz. Nicht, dass er sich mehr angestrengt hätte, nein, ihm kam es nicht so vor, als wäre er anders oder schneller gelaufen. Finn wendete den Kopf und registrierte die ungewohnte Situation. Er lief weiter, und als er die Gerade zur Hälfte passiert hatte, mobilisierte Daniel seine Kraftreserven.
    Er schloss zu ihr auf. Dann, langsam, Zentimeter für Zentimeter, fast wie in Zeitlupe, zog er an Finn vorbei. Daniel sah zu ihr hinüber. Ihr Gesicht war konzentriert wie immer, sie lief nicht absichtlich langsamer. Merkwürdig.
    Als er die Tiergartenstraße als Erster erreichte, lief er etwa zwanzig Meter vor ihr. Als sie ihn erreichte, hatte sie keine Puste mehr. Sie atmeten beide schwer. Niemand redete.
    Sie fuhren zusammen in die Wohnung zurück, duschten. Finn bereitete für sie ein Müslifrühstück zu, Daniel war für den Kaffee zuständig. Finn brauchte ihn morgens stark und schwarz.
    Es war ein Tag wie immer und doch ganz anders.

[Menü]
42. Fünfter Tag (1)
    Henry schob Assmuss ein Bündel frischer Tageszeitungen über den Tisch.
    »Steht heute etwas über mich drin?«
    Sein Entführer schüttelte den Kopf. Assmuss schob die Zeitungen zurück.
    »Dann lese ich sie auch nicht.«
    Henry setzte sich ihm gegenüber und klappte seinen Computer auf.
    »Ich will mich mit Ihnen heute Morgen über Ärzte unterhalten.«
    »Über Ärzte?«
    »Ja. Ich verstehe nicht, warum sie sich von Ihnen so leicht steuern lassen.«
    »Na ja, nicht alle.«
    »Aber Sie sagten, ungefähr die Hälfte.«
    »Ja, das kommt hin. Wir haben den Markt sorgfältig untersucht. Wir haben unsere Vertriebserfahrungen.«
    »Die Hälfte der Ärzte macht das Spiel mit.«
    »Es ist kein Spiel.«
    »Nein?«
    »Nein. Es ist Geschäft.«
    »Aber es geht um die Gesundheit von Menschen. Von konkreten, lebenden Personen.«
    »Das auch. Aber in erster Linie ist es ein Geschäft.«
    »Sie könnten auch Autos verkaufen oder Heizdecken?«
    »Autos und Heizdecken bringen keine 40 Prozent.«
    »Zurück zu den Ärzten.«
    »Sie wollen etwas über unser Marketing gegenüber den Ärzten erfahren, Henry. Sie kommen nicht aus meiner Branche, nicht wahr? Und Sie sind auch kein Arzt. Oder?«
    »Zurück zu den Ärzten.«
    »Wie Sie möchten, Henry. Wir wollen, dass die Verordner unsere Medikamente verordnen. Das ist alles, was wir wollen. Nicht Novartis , nicht Bayer , sondern Peterson & Peterson . Am liebsten haben wir es, wenn sie ausschließlich unsere Präparate verschreiben. Dann ist der Arzt ein Topverordner der Kategorie A. Als Gegenleistung gewähren wir Vermögensvorteile, die er ohne zusätzlichen Einsatz seiner Arbeitskraft oder seines Personals erzielen kann.«
    »Topverordner der Kategorie A?«
    »Verordner der Kategorie B verschreiben zu mehr als 50 Prozent unsere Produkte, Verordner der Kategorie C zwischen 20 und 50 Prozent. Alles darunter ist D-Klasse. Wir möchten natürlich jeden Verordner für die nächsthöhere Kategorie qualifizieren. Wir zeigen ihm die Vermögensvorteile, die ihn erwarten, wenn er mit uns zusammenarbeitet. Wir fangenklein an. Kleine Geschenke. Die Kugelschreiber fürs Büro. Die teure Espressomaschine signalisiert schon, dass wir ein gesteigertes Interesse an ihm haben. Dann schauen wir, was geht.

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