Die letzte Flucht
ein.
Sein Hirn akzeptierte nicht, was er sah. Es befahl den Augen, die Informationen zu prüfen und noch einmal zu senden. Und noch einmal. Und noch ein drittes Mal. So entstand die merkwürdige Situation, dass Dengler einige Sekunden, nachdem die Tür des Studios hinter ihm ins Schloss gefallen war, dastand wie ein Depp, mit Besen und Putzeimer in der Hand, und auf die Szene vor ihm starrte.
Der Polizeichef lag auf dem Bett, Hände und Füße an je einen der Bettpfosten gefesselt. Seine Haut glänzte weiß und teigig, seine Brust- und Schamhaare waren dünn und grau, unter der Bauchfalte ragte ein dunkelrot angelaufener Penis steil zur Studiodecke. An seinen Brustwarzen hingen merkwürdige Elektroklemmen. Marta saß gebückt über ihm.
Es war wohl das Klacken der Studiotür, das den Polizeichef aus seiner Ekstase riss. Mit einem Ruck wendete er den Kopf und starrte Dengler mit aufgerissenen Augen an. Dengler konnte genau sehen, wie die Überraschung dem Ärger wich und der Ärger dem Erkennen.
Er wollte etwas sagen. Das Geräusch, das er dabei produzierte, klang nicht gut. Er riss an seinen Fesseln.
Marta drehte sich um, zischte ihm ein »Verschwinde« zu und ein »Nimm meine schwarze Tasche!«.
»Scheiße«, sagte Dengler und floh.
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63. Daniel
Daniel nahm Urlaub.
Er durchforstete das Internet.
Er abonnierte das Deutsche Ärzteblatt.
Er sammelte Informationen über ihre Krankheit.
Finn Kommareck hörte ihm aufmerksam zu, wenn er berichtete. Dann begann auch sie zu suchen, und sie lasen alles, was sie über ihre Krankheit finden konnten: Bücher, Broschüren, Internet, Zeitschriften. Sie saßen abends zusammen und tauschten ihre Informationen aus.
»Man weiß nicht, wie der Tumor entsteht. Ich stelle ihn mir wie eine Art Blumenkohl vor. Er wächst langsam. Wenn dein dummer Arzt nicht gedacht hätte, es wären Hämorriden, hätte man ihn leicht behandeln können. Und wenn du noch einmal hingegangen wärst oder zu einem anderen Arzt – aber lassen wir das.«
***
Dr. Rapp war ein rücksichtsvoller Mann. Aber er war auch ehrlich zu Finn.
»Dem Tumor sind bereits Absiedlungen in entferntes Gewebe gelungen. Sie sind an vielen Stellen in Ihrem Bauch.«
»Das heißt für mich?«
»So leid es mir tut, Frau Kommareck: Die Uhr läuft.«
»Wie lange habe ich noch zu leben?«
»Bei einem aggressiven Verlauf fünfzehn Monate, vielleicht achtzehn. Bei einem mittleren Verlauf drei oder vier Jahre.«
»Ich bin doch noch jung.«
»Das sind Sie, Frau Kommareck.«
***
»Wir geben trotzdem nicht auf«, sagte Daniel. »Wenn irgendjemand ein Wunder verdient hat, dann du.«
»Du auch, Daniel.«
Am nächsten Tag brachte er ihr aufgeregt ein Informationsblatt.
»Schau«, sagte er. »Es gibt hier eine Veranstaltung ›Es gibt noch Hoffnung – Neue Methoden in der Krebstherapie‹.Organisiert von einer Selbsthilfegruppe. Wir gehen dahin. Vielleicht erfahren wir etwas, was dein Dr. Rapp noch nicht weiß.«
»Ja. Da gehen wir hin. Ich bin so müde, Daniel.«
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64. Olga
Olga teilte Denglers Vertrauen in die Berliner Polizei nicht.
Denn es geschah nichts. Keine Entwarnung. Nichts.
Im Gegenteil: Der Fahndungsdruck hielt an. Vor dem Basta patrouillierten Zivilpolizisten. Dem kahlköpfigen Kellner wurde es zu viel: Mit einem strafend vernichtenden Blick und der minimalen Andeutung eines Kopfschüttelns verweigerte er den Beamten den Zutritt, als sie baten, die Toilette des Lokals benutzen zu dürfen. Wenn Olga in die Stadt ging, folgten ihr unbekannte Männer. Ihre Bewacher bemühten sich keineswegs, unauffällig zu bleiben. Manchmal grüßten sie sogar. Sie konnte Dengler nicht treffen. Sie vermied den Kontakt zu Marta, um sie nicht auf die Spur des Versteckes zu führen.
Es konnte so nicht mehr weitergehen.
Mario wurde überwacht. Martin Klein hatte seine eigenen Bewacher. Die Freunde von Dengler konnten keinen unbeobachteten Schritt machen. Die Polizei sah alles.
Fast alles.
Wenn Olga im Internet unterwegs war, schützten sie firewalls , dick und fest wie Burgmauern.
Marta besuchte sie und berichtete von Denglers Flucht aus dem Studio Arachne. Der Kunde, der Dengler erkannt hatte, würde jedoch schweigen, dafür habe sie gesorgt. Aber sie wisse nicht, wo Georg sich nun versteckte.
Olga vermisste ihren Geliebten. Sie wollte ihm helfen.
Doch was sollte sie tun?
Sie saß hinter ihrem Rechner und dachte nach.
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65. Spülen
Er hatte weder eigenes Geld noch Hoffnung.
Olga fehlte ihm wie
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