Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Gesicht zu bekommen; das Regenwasser schmeckte salzig, als es ihr in den Mund rann. Sie roch den Gestank von Abwässern und noch etwas anderes, etwas Abgründigeres, Verdorbeneres.
Sie hörte das Rauschen des Regens, die Rufe der Leute, sogar die Schreie der Möwen. Meeresküstengeräusche, dachte sie. Ansonsten war es erstaunlich still in der Stadt - Manhattans Verkehrsmittel, die Privatwagen, Busse und Scharen gelber Taxis, lagen rostend metertief unter ihren Füßen.
Nathan Lammockson kam auf sie zu. Er war persönlich hier, um sie vom Chopper abzuholen, stämmig und zielstrebig, in einem wasserfesten Overall. In seinem Schatten folgte ein Assistent, der sich fortwährend Notizen auf einem Handheld machte. Lammockson schüttelte dem Piloten die Hand. »Bobby. Hübsche Landung. Grüßen Sie Ihre Mutter von mir.«
Der Pilot grinste erfreut und geschmeichelt. »Danke, Mr. Lammockson.«
Lammockson umarmte Lily. »Schön, Sie wiederzusehen. Machen wir, dass wir aus diesem verdammten Regen rauskommen.« Er führte sie zu dem zweistöckigen Gebäude.
Sie blickte sich zu dem Piloten um. »Schauen Sie sich diesen Burschen an. Der ist überglücklich.«
»Die alten Tricks sind immer die besten. Ich kannte noch Tony Blair. Hab ich Ihnen das schon mal erzählt? Ich habe zu Füßen des Meisters gelernt.«
Wie sich herausstellte, war der Turm eine zweigeschossige Wohnung mit einer Küche und Lagerräumen unten und einem offenen Wohn-, Ess- und Schlafraum darüber. Sie war klein und bescheiden, aber ansprechend möbliert. Die Lehnsessel aus weißem Leder waren offenbar bei Bloomingdale’s geborgen worden, denn ein Preisschild des Kaufhauses lag wie eine Trophäe auf einem Kaffeetischchen. Es musste eine höllische Operation gewesen sein, diese Möbelstücke aus dem Wasser zu holen, ohne dass sie auch nur einen einzigen Fleck davongetragen hatten; in einer Stadt, in der alle Gebäude bis auf die höchsten jetzt vollständig unter Wasser lagen, gestalteten sich Bergungsunternehmen ungeheuer schwierig.
Lammockson half Lily aus dem Poncho. Er wärmte gerade Kaffee auf. »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte«, sagte er. »Hey, möchten Sie vielleicht was Stärkeres? Ich habe einen Jack Daniel’s, der ausgetrunken werden muss.« Er zeigte ihr die Flasche.
»Nein, danke. Tolle Wohnung haben Sie hier.«
»Die Miete kostet mich ein Vermögen. Das Kollektiv behauptet, ein Haufen Bohemiens zu sein, kann es aber an Durchtriebenheit mit jedem Miethai der ehemaligen Lower East Side aufnehmen.«
»Was für ein Kollektiv? Ich dachte, das ganze Floß gehört Ihnen.«
Er lachte, reichte ihr einen Becher Kaffee und gab einen
Schuss Jack Daniel’s in seinen eigenen Becher. »Guter Gott, nein. Mieten ist billiger. Vor allem, weil ich, wie Sie wissen, nicht die Absicht habe, länger zu bleiben als unbedingt nötig. Zwar habe ich hier immer noch geschäftlich zu tun - ich rüste die verbliebenen Bergungs- und Evakuierungsunternehmen aus -, aber im Grunde habe ich New York nach dem Hurrikan verlassen.«
Im Verlauf der letzten Jahre hatte Lammockson seinen Reichtum kontinuierlich in greifbare Formen übertragen, in Macht, Grundbesitz und andere Vermögenswerte. Nun, wo Kommunikationswege und Verkehrsverbindungen stetig zusammenbrachen, standen die überlebenden Finanzeinrichtungen unter zunehmendem Druck; Lammockson sagte immer, er wolle nicht, dass sich sein Reichtum in nichts auflöse, wenn bei irgendeinem Bankcomputer der Strom ausfalle.
»Dieses Floß besteht zu großen Teilen aus Autoreifen und Ölfässern. Die Jungs vom Greenwich-Village-Kollektiv haben es geplant und hier an Ort und Stelle zusammengebaut, nachdem der Hurrikan sich ausgetobt hatte, während das Wasser um sie herum stetig gestiegen ist. Aber ›Floß‹ ist eigentlich das falsche Wort dafür. Ein Floß ist ein Fahrzeug, nicht wahr? Dieses Floß soll nirgendwohin fahren, es ist viel zu groß, als dass man es durch die Straßen der Stadt lenken könnte. Betrachten Sie’s als eine Insel. Die Leute leben hier, sie sind nicht bloß die Besatzung.« Lammockson zeigte auf eine Reihe niedriger Bauten. »Das da ist eine Wasserfilteranlage. Und das eine Schule. Da sitzen jetzt schon Kinder drin, die sich nicht mehr an die Welt vor dem Hochwasser erinnern.« Er wedelte mit seinem Becher zu den überfluteten Straßen, dem schwimmenden Müll, den Klippen glasloser
Fenster rund um sie herum. »Für die ist das hier normal. Stellen Sie sich das vor! Die Zeit bleibt
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