Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Durst, Hunger, Krankheiten und örtlich begrenzten Kriegen. Vor der Flut lebte ein volles Drittel der Weltbevölkerung in Gebieten, die weniger als hundert Meter über dem Meeresspiegel lagen. Nun, diesen Pegelstand haben wir jetzt fast erreicht, also müssen zwei Milliarden Menschen entweder schon tot oder auf Wanderschaft sein. Die Regierungen haben
zwar endlich aufgehört, die Geschehnisse zu leugnen, aber es ist zu spät für sie. Sie verlieren die Kontrolle über ihre Ressourcen und ihre Bevölkerung, während sie auf eine neue Form der Geopolitik umschwenken. Plötzlich sind Höhenlagen eine weitaus wertvollere Ressource als Öl. Es gibt zum Beispiel Gerüchte, dass Russland und China sich auf einen Krieg um Tibet zubewegen. Regierungen werden bald keinerlei Bedeutung mehr haben. Sie werden immer im Nachteil sein, weil sie verpflichtet sind, sich um die gesamte Bevölkerung zu kümmern, ihre Bürger zu unterstützen, zu unterdrücken, zu kontrollieren oder was auch immer. Private Organisationen haben weitaus begrenztere Ziele - egoistische Ziele, wenn man so will -, aber Ziele, die dank ihrer Begrenztheit eben auch weitaus leichter zu erreichen sind. Und darum sind es die Unternehmen, die großen Beratungsfirmen und die multinationalen Konzerne, die bestehen bleiben werden, wenn die Regierungen bröckeln und zerbrechen.«
»Und Sie wollen mit ihnen bestehen bleiben, Nathan?«
»Darauf können Sie wetten.« Er griff nach dem Jack Daniel’s. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen Schluck wollen? Sie gehen heute nirgends mehr hin. Entspannen Sie sich. Ziehen Sie die Stiefel aus. Die Dusche ist heiß. Kommen Sie, ich hole Ihnen ein Glas.«
47
Es war schon spät am Tag, als Piers den Union Square erreichte und auf das Floß kam. In Nathans Wohnung stand er am Fenster und blickte hinaus, ein Glas von Lammocksons Whiskey in der Hand. Er sah aus, als brauchte er dringend Urlaub; seine Augen waren grau gerändert, die Bartstoppeln ungepflegt.
Die Wolken waren aufgebrochen. Hinter den ramponierten Schultern der noch stehenden Gebäude Manhattans färbte der Sonnenuntergang den Himmel in Schichten von Rosa und Rot; das Licht verfing sich in den Ölpfützen auf der Wasseroberfläche.
»Toller Anblick«, sagte Piers. »Vulkanische Sonnenuntergänge, wie man sie nennt. Der ganze Staub in der Luft.«
»Ja.« Lily hatte Piers seit sechs Monaten nicht mehr gesehen. Ihr war nicht sonderlich danach zumute, über Vulkane zu sprechen.
Sie versuchte, aus ihm schlau zu werden. Er war derselbe Piers, den sie immer gekannt hatte, dieselbe Mischung aus Stärke und Zerbrechlichkeit, aus persönlicher Kraft und Unbeholfenheit. Allerdings schien er in ihrer Gegenwart ein wenig nervöser zu sein als sonst. Als wollte er ihr etwas sagen, wüsste aber nicht, wie.
»Piers, ich schwöre, bei unserer letzten Begegnung in
Newburgh hast du dasselbe Hemd getragen.« Es war eines der langlebigen Kleidungsstücke von AxysCorp und schon mehrere Jahre alt. Da es kaum noch andere Produzenten gab, kleidete Nathan Lammockson nun die ganze Welt ein.
Er zuckte mit den Achseln. »Ist schon eine Weile her, dass ich shoppen war«, sagte er mit einem Anflug seiner alten Trockenheit. »Langsam, aber sicher verwandeln wir uns alle in Vogelscheuchen.«
»Was bei meinem Kleidungsstil nicht den geringsten Unterschied machen wird.« Das war Garys Stimme, die dank der Verbindung schärfer klang.
Sie drehten sich um. Gary war auf dem Bildschirm des Laptops erschienen, den Lily auf Lammocksons Kaffeetisch gestellt hatte. Das Bild war ein bisschen instabil.
Piers und Lily traten vom Fenster zurück. Lily hob ihren Jack Daniel’s. »Hey, Gary, hast du auch was zu trinken?«
Gary langte aus dem Bild und zeigte ihnen eine Porzellantasse, in der etwas Heißes dampfte. »Kaffee. Erst so ungefähr der vierte Aufguss.« Er räusperte sich. »Und dann waren’s nur noch drei.«
»Ja.«
Piers hob sein Glas. »Auf Helen und John Foreshaw. Auf alle, die heute nicht hier sein können.«
Sie tranken gemeinsam.
»Ihr fragt euch vermutlich, warum ich euch heute hergebeten habe«, sagte Lily.
»Ha, ha«, machte Gary.
»Wir wissen, warum«, sagte Piers. »Du willst Gary überreden, bei Lammockson anzuheuern, und uns beide, mit dir in die Anden zu kommen.«
»Genau. Ich denke nun mal, das ist die beste Alternative, die wir haben.«
»Ich muss vorher noch was anderes erledigen, was damit im Zusammenhang steht. Darauf kommen wir gleich noch.« Gary sah an ihnen vorbei.
Weitere Kostenlose Bücher