Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Spaziergang.«
»Lass uns erst mal was trinken …«
Ein donnernder Knall ertönte, als wäre ein Artilleriegeschütz abgefeuert worden. Lily und Piers duckten sich reflexartig.
Sie drehten sich zum Fenster um, wo der Sonnenuntergang allmählich verlosch. Irgendwo in der verlassenen Stadt, weit entfernt, stieg eine dicke Wolke empor. Vielleicht ein einstürzendes Gebäude, dachte Lily. Vielleicht auch nicht. Als das Geräusch von den flachen Betonwänden widerhallte, ergriffen die Tauben die Flucht; sie stoben von ihren Nestern in fensterlosen Räumen auf, die einst von Anwälten, Webdesignern und Werbeleuten bevölkert gewesen waren, und erhoben sich in einem gewaltigen, immer größer werdenden Schwarm, der den roten Himmel verdunkelte.
Dritter Teil
2025 - 2035 Anstieg des Meeresspiegels: 200-800 Meter
48
FEBRUAR 2025
Lily beschloss, mit Amanda über Kristie zu reden. Zu ihrer Überraschung bestand Piers darauf, sie zu begleiten.
Er wartete auf sie, als sie mittags aus dem AxysCorp-Büro gleich bei der Plaza de Armas im Herzen von Cusco kam. Piers achtete stets darauf, dass sein langlebiger Axys-Corp-Overall frisch gewaschen und gebügelt war. So ähnelte dieser zumindest entfernt einer der Militäruniformen, die Piers vor fünf Jahren abgelegt hatte, als er in Lammocksons Dienste getreten und mit Lily nach Project City gezogen war. Er war jetzt neunundvierzig, so wie sie, mit ergrauendem Haar, hagerem Gesicht und einer so aufrechten Haltung, dass er unter dem blauen Himmel Perus einen pfeilgeraden Schatten warf, wie der Polstab einer Sonnenuhr. Er hatte noch immer diese spröde Aura, dachte sie. Wie ein vertrocknetes Zuckerrohr, das schon bei leichtem Wind zu zerbrechen drohte - so hatte es Michael Thurley vor Jahren einmal ausgedrückt. Und trotzdem war er noch am Leben.
»Ich weiß nicht so recht, warum du mitkommen willst«, sagte Lily. »Das ist eine Familienangelegenheit.«
Er versteifte sich ein wenig. »Ah. Und dabei dachte ich, wir wären jetzt eine Familie.«
In den fünf Jahren, die sie nun schon zusammenlebten, hatte sie immer wieder gemerkt, dass er außerordentlich
leicht zu verletzen war. »So hab ich das nicht gemeint«, sagte sie beschwichtigend. »Aber das ist Schwesternkram. Mutter und Tochter, Tante und Nichte. Amanda hat seit sechs Monaten nicht mehr mit Kristie gesprochen, seit das Mädchen zur Titicaca-Kommune gegangen ist.«
»Oder auch«, erwiderte Piers, »seit Amanda bei Juan Villegas eingezogen ist.«
»Na siehst du. Alles hat zwei Seiten, nicht wahr? Ich will nur, dass meine Schwester und meine Nichte wieder miteinander reden. Und wenn du andeuten willst, die ganze Sache sei irgendwie Amandas Schuld, dann wirst du mir keine Hilfe sein.«
»Aber es ist Amandas Schuld, wie du es ausdrückst. Aus reiner Eitelkeit hat sie sich mit diesem Mann eingelassen und ihre Tochter vertrieben.«
»Kristie ist zwanzig Jahre alt, Piers. Sie hat das Recht, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Was hast du denn gemacht, als du zwanzig warst? Jedenfalls hast du bestimmt nicht mehr bei deiner Mutter gewohnt.«
Er schüttelte den Kopf. »Das spielt doch gar keine Rolle. Wir leben nicht in normalen Zeiten - es ist nicht mehr so wie früher. Die alten Regeln gelten nicht länger.«
»Hm«, sagte sie leicht entnervt. »Hör mal - überlass Amanda einfach mir. Okay?«
Aber Piers schwieg und ging nicht auf ihr Ansinnen ein. Stattdessen lächelte er sie an und bot ihr den Arm.
Sie machten sich auf den Weg zu Amanda - oder vielmehr zum Haus von Juan Villegas, dem criollo , zu dem Lilys Schwester gezogen war. In Projekt City ging man überallhin zu Fuß, oder man fuhr Fahrrad oder nahm vielleicht ein
Pferd, wenn man eines ergattern konnte. Selbst Nathan Lammockson ging zu Fuß. Sie hatten keinen Brennstoff für nicht lebensnotwendige Dinge übrig.
Piers und Lily überquerten die weite Fläche der Plaza. Dies war Cusco, früher die Hauptstadt des Inka-Reichs, später eine spanische Kolonialstadt und im zwanzigsten Jahrhundert ein Touristenparadies. Jetzt war Cusco das Zentrum von Lammocksons Project City, seiner Enklave im Andenhochland. Doch dieser weite, gepflasterte Platz mit seinen Blumenkästen und Straßenlaternen blieb das Herz der Stadt, so wie damals, als er das Zentrum eines den ganzen Kontinent umspannenden Reiches gewesen war, das die Inkas Tahuantinsuyo genannt hatten, das Reich der vier Weltgegenden. Sie kamen an Kolonialkirchen voller drastischer Bilder vorbei, die von Blut und
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