Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
wurde; die Flut hatte ihrer Erhabenheit keinen Abbruch getan. Als sie die Sierra überquerten, flogen sie über einen Flickenteppich kultivierten Landes, ordentliche Gersten- und Maisfelder mit Trennmauern aus hochgewachsenen Eukalyptusbäumen und Feigenkakteen. Diese Hochlagen waren vor sechshundert Jahren zuerst von
den Inkas terrassiert und bebaut worden, wurden aber auch heute noch genutzt; man erntete hier Kartoffeln, und Herden von Lamas und Alpakas liefen frei herum.
Doch als Lily nach Osten blickte, glaubte sie, das Wolkenmeer sehen zu können, das über dem neuen Amazonas-Ozean lag, wo ein versunkener Regenwald nun in einem nur wenige Jahre alten Salzmeer verrottete.
Piers Michaelmas saß vor Lily. Er hockte kerzengerade auf seinem Sitz, und sie sah seinen Hinterkopf mit dem exakt geschorenen Haar. Er hatte beschlossen, sie zu begleiten, um »die Sache zu klären«, wie er sich ausdrückte, und sie hatte keinen Weg gefunden, es ihm auszureden.
»Erstaunlich, was die Inkas hier oben geleistet haben«, sagte Lammockson leise. Er saß neben Lily und sah ihr über die Schulter. »Ich meine, ihr Reich hat nur ein paar Jahrzehnte bestanden. Aber die Inkas haben schnell und groß gebaut und ihre Spuren hinterlassen. Genau wie die Römer.«
»Und wie Sie, Nathan?«
»Na, na, treiben Sie’s nicht zu weit, Brooke. Ja, wie ich. Manche von uns haben einen Blick, der Jahrhunderte durchdringt. Ich glaube, Churchill hat etwas dergleichen gesagt.« Lammockson blickte auf sein Reich hinaus, und das strahlende Sonnenlicht der luftigen Höhe betonte die Umrisse seines fleischigen Gesichts.
Das Flugzeug landete routiniert in Ufernähe des Titicaca-Sees, in den Außenbezirken einer hässlichen, funktionellen Stadt namens Puno, einst ein Stützpunkt des Silberbergbaus und jetzt Regierungshauptstadt des Altiplano. Lily und Piers stiegen unter einem noch blaueren Himmel aus der Maschine.
Das Wasser des Sees war heute ruhig; glatt und türkis erstreckte es sich in die Ferne. Das Licht der sinkenden Sonne hob das Gelb der Schilfbeete hervor. Am Horizont sah Lily eine gezackte Linie vergletscherter Gipfel, und Wolken quollen von tiefer gelegenem Land empor, Kumuluswolken, die sich unterhalb dieses Wasserkörpers bildeten. Es war ein Anblick, den sie immer wieder erstaunlich fand, ein kompletter siebenhundert Kilometer langer See mit Inseln und Fischerbooten, der drei Kilometer hoch im Himmel hing. Doch sogar hierher hatte es Flüchtlinge verschlagen, sogar hier gab es eine armselige Siedlung, die sich ums Ufer zog; Menschen hockten in primitiven Hütten aus Schilfgras oder umgedrehten Booten, lebten vom Fisch, den sie fingen, oder von den Kartoffeln, die sie auf kargen Flecken gerodeten Bodens anbauten - und vielleicht wurden auch hin und wieder ein paar Alpakas gestohlen.
Lammockson vertrat sich fünf Minuten lang die Beine, ging dann mit Villegas und seinen Leuten wieder an Bord der Maschine und startete zu seiner Konfrontation mit den aggressiven Briten in ihrem Flugzeugträger. Ein paar Minuten später erschien ein Firmenwagen, um Piers und Lily abzuholen, ein im Bummeltempo fahrender Buggy mit Brennstoffzellenantrieb.
Kristie Caistors letzter bekannter Aufenthaltsort waren die Islas de los Uros. Der Wagen brachte Piers und Lily zu einer Stelle am Ufer, von der aus sie mit dem Boot auf die Inseln übersetzen mussten, einem weiteren AxysCorp-Gefährt, auf dessen Rumpf das Geborgene-Erde-Logo prangte.
Die »Inseln« waren künstliche Gebilde, die lediglich aus Schilfgrasmatten bestanden. Auf der größten gab es eine Art
Dorf aus hübschen Schilfhütten. Ruderboote waren auf den matschigen Uferstreifen der Insel gezogen worden. Ein leichter Fäulnisgeruch hing in der Luft, wurde jedoch vom stärkeren Gestank der Fische überlagert, die, an Leinen aufgereiht, in der Nachmittagssonne trockneten. Das moderne AxysCorp-Boot mit dem Kunststoffrumpf wirkte hier vollkommen fremdartig.
Kristie stand auf ihrer Inselheimat und wartete auf ihre Tante. Zwanzig Jahre alt und tief gebräunt, trug sie einen Kittel aus leuchtend bunt gefärbter Wolle und einen schwarzen Filzhut. Neben ihr stand ein junger Mann, kleiner als sie, mit dunkelbrauner Haut, schwarzen Augen und ähnlich farbenfroher Wollkleidung. Wie Benj hatte sich Kristie seit ihrer Zeit in Fulham sehr verändert. Aber Fulham war jetzt verschwunden, ein Name, den niemand je wieder auszusprechen brauchte; dies war die Wirklichkeit, dieser See, diese Insel, und dies war
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