Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
die Kristie von heute.
Als das Boot anlegte, kam Kristie herbeigelaufen. »Hi, Lily! Komm, ich helfe dir. Das Aussteigen ist ein bisschen knifflig, wenn man nicht dran gewöhnt ist.«
Sie hatte recht. Es war schwierig, aus dem auf und ab tanzenden Boot auf die Insel zu steigen, wo das Schilf unter Lilys Füßen nachgab, so dass sie keinen festen Halt fand. Lily fühlte sich daran erinnert, wie sie mit Thandie Jones vor nunmehr acht Jahren an Bord der Trieste geklettert war.
Piers folgte ihr. Ungeduldig lehnte er Hilfe ab. Obwohl er darauf bestanden hatte mitzukommen, sah er so aus, als wäre er alles andere als froh darüber, hier zu sein.
Kristies junger Mann streckte die Hand aus. »Sie sind also Tante Lily. Kommen Sie, ich zeige Ihnen unser Zuhause. Wir
haben hier nicht oft Besuch!« Sein Englisch war gut, mit dem leichten Akzent, an den sie sich erinnerte.
»Ollantay, nicht wahr?«, sagte Lily. »Wir sind uns schon einmal begegnet, in Cusco.«
Er sah sie mit leeren Augen und leisem Lächeln an. » Qosqo . Wir nennen es Qosqo. Näher an der wahren Inka-Aussprache.«
»Der Name der Stadt«, sagte Piers steif, »ist weder Qosqo noch Cusco, sondern Project City.«
Ollantay drehte sich zu ihm um. Sein ausdrucksloses Lächeln änderte sich nicht. Sie gaben sich die Hand, aber Piers’ Miene war feindselig.
Sie gingen zu einer Hütte mit Wänden aus aufeinandergestapelten Schilfrohrbündeln; weiteres Schilfrohr bedeckte das Wellblechdach. Offenbar hatten Vögel im Stroh genistet, und eine kleine Satellitenschüssel thronte auf dem Dach.
Im Innern war die Hütte überraschend geräumig und sauber. An den Wänden hingen Decken, und auf dem Boden breitete sich eine Art Wollteppich aus. Es gab Kisten und Schrankkoffer, aber auch kleine Verbeugungen vor der Moderne, wie zusammengerollte Nylon-Schlafsäcke in einer Ecke. Lily sah Spuren von Kristies alter Identität: den Handheldcomputer, auf dem sie ihre Hausaufgaben gemacht und ihr Sammelalbum angelegt hatte, ihren alten pinkfarbenen Rucksack, der an einer Wand hing, sogar ihr ramponierter Teddybär saß in einer Ecke. Und Lily roch Küchendüfte, gebratenes Fleisch. Sie argwöhnte, dass es Meerschweinchen war.
Sie nahmen alle im Schneidersitz auf dem Boden Platz. Ollantay stellte einen Wasserkessel auf einen Campingkocher.
»Das ist also euer Zuhause«, sagte Lily.
»Eigentlich das meiner Eltern«, erwiderte Ollantay. »In meiner Kultur ist es Brauch, dass Partner vor der Ehe im Heim der Eltern des einen oder anderen wohnen.«
Kristie warf Lily ein unsicheres Lächeln zu. »Und es ist nicht sonderlich praktikabel, bei meiner Mutter zu wohnen, nicht?«
»Ihr solltet verdammt noch mal dafür sorgen, dass es praktikabel ist«, warf Piers ein. »Deshalb sind wir hier.«
»Piers«, mahnte Lily sanft. Sie wandte sich an Ollantay. »Danke für den freundlichen Empfang.«
»Er ist wirklich ein guter Gastgeber«, sagte Kristie milde. »Üblicherweise spricht man hier Quechua. Die Sprache der Inkas.«
»Die wahre Sprache Perus, bevor es Peru war.« Ollantay goss kochendes Wasser in eine Kanne, stellte ihnen Tassen hin und füllte sie mit einem grünen Tee.
»Aber du selbst bist kein reiner Quechua, nicht?«, blaffte Piers.
»Ach, heutzutage gibt’s hier nur noch Mischlinge«, sagte Kristie im Versuch, eine heitere Note ins Gespräch zu bringen. »Wie überall anders auch, nehme ich an. Da sind die Fischer, die seit Generationen hier leben. Aber jetzt gibt es einen Zustrom von Tieflandbewohnern, die von der Küste heraufkommen. Und es gibt auch barbaros .«
Das waren Indianer aus den Amazonaswäldern, denen es teilweise gelungen war, über die langen Jahrhunderte des Kolonialismus und der industriellen Ausbeutung hinweg Distanz zur westlichen Kultur zu bewahren. Ihre Stämme trugen Namen wie Mascho Piro, Awa und Korubo. Doch
nun schwappte die Flut in die Ausläufer der Anden, trieb sie aus den Wäldern und zwang sie, durch den Nebelwald zu diesem unwirtlichen Plateau heraufzusteigen. Zusammen mit ihnen kamen andere Bewohner des Waldes, Vögel, Schlangen und Affen; die Menschen hier oben ließen allerdings nur wenige von ihnen am Leben, und die Berge wurden Zeugen der Endphase eines Artensterbens.
»Ein komischer Haufen sind die«, fuhr Kristie fort. »Die barbaros . Keine Vorstellung von Geld oder anderen Sprachen. Sie wissen nicht mal, in welchem Land sie sind.«
Lily nickte. »Nathan schickt Ethnografen und Anthropologen her. In manchen Fällen ist sogar
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