Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
alterndes Utopia umgab. Doch ein Slum war trotz allem ein Slum, auch wenn die Welt sich noch so sehr änderte. Die Kinder, die zu Lily herausschauten, hatten eingefallene Gesichter und große Augen vor Hunger. Diese Menschen waren in den verschwundenen Städten arm gewesen, und sie waren auch hier und jetzt arm; für sie bedeutete die Flut nur, dass sie einen Slum in einem Flusstal gegen einen in den Bergen eingetauscht hatten.
Diese Stadt um eine Stadt hatte von Lammockson keinen Namen bekommen. Diejenigen, die hier lebten, nannten sie P-ville: Pizarroville.
»Weißt du«, sagte Benj, »hier gab’s Leute, die froh waren, als Nathan ankam und Cusco kaufte. Die Regierung war wegen der Überschwemmungen und der Dürren infolge des ausbleibenden Schmelzwassers der Andengletscher im Zerfall begriffen, ebenso wie wegen der Grenzstreitigkeiten mit Ecuador und Chile. Chaos, Konflikte, Massenmigration und keine funktionierende Demokratie.« Er kratzte sich am Kopf. »Die Leute haben mit Freuden einen Haufen unfähiger Bosse gegen einen fähigen eingetauscht, besonders als Nathan anfing, ihnen das Blaue vom Himmel zu versprechen, wie er sich um P-ville kümmern würde. Und deshalb
haben heute sehr viele hier das Gefühl, betrogen worden zu sein, weil es so weit gekommen ist, dass Soldaten hungernde Menschen von Feldern mit ungenießbaren Früchten fernhalten.«
»Und was war es, eine Benzinbombe?«
Er grinste. »Ein origineller Einsatz unseres eigenen Brennstoffs. Momentan versuche ich zu verhindern, dass dieser Zwischenfall sich zu einer Art Krieg mit der Polizei auswächst.«
»Ich fliege später mit Nathan nach Titicaca. Soll ich mit ihm darüber sprechen?«
»Das könnte vielleicht helfen. Es ist immer noch so, dass Nathans Wort gilt.« Er sah sie an. »Du fliegst da rauf, um mit Kris zu sprechen, nehme ich an.«
»Das habe ich vor.«
»Hat Mum dich geschickt?«
»Nein.« Lily schnitt eine Grimasse. »Sie hat mir sogar vorgeworfen, dass ich mich einmische.«
»Tja, tust du doch auch.«
»Wir können es uns nicht leisten, dass die Familie zerbricht. Kris sucht sich ihr eigenes Leben, und das ist in Ordnung, das muss sie auch. Aber letzten Endes haben wir nur einander.«
»Aber für dich bedeutet ›wir‹ mehr als die Familie. Du hast deine Freunde - die Geiseln. Du fühlst dich ständig zu ihnen hingezogen.«
»Für mich gehören auch sie zur Familie. Das weißt du.«
»Ja. Aber ich frage mich, ob Kristie das Gefühl hat … ich weiß nicht … dass die anderen ihr im Weg stehen.«
Lily runzelte die Stirn und überlegte, ob er ihr etwas sagen
wollte. »Gibt es vielleicht ein Problem mit Piers? Willst du darauf hinaus?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß einfach nicht, was du in Kris’ Kopf finden wirst, wenn …« Ein in den Ärmel seines Blaumanns eingesetzter Bildschirm blinkte pinkfarben auf; er tippte darauf und überflog einen kurzen Text, der über den Bildschirm lief. »Ich muss weg. Probleme in einer anderen Ecke von P-ville - auf einem anderen Versuchsfeld.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein. Flieg du mal mit Nathan los. Richte Kris alles Liebe von mir aus. Sag ihr, ich finde auch, dass sie Mum anrufen sollte - was wahrscheinlich dazu führen wird, dass sie’s erst recht nicht tut. Und sag diesem Quechua-Burschen, mit dem sie zusammen ist - Ollantay -, er schuldet mir ein Glas Chicha.«
»Mach ich.«
»Muss mich beeilen.« Benj stellte einen der Cops dazu ab, sie aus P-ville zu begleiten, und dann war er in den gewundenen Straßen der Hüttensiedlung verschwunden.
50
In Lammocksons Flugzeug wurde Lily in den Himmel über Cusco emporgehoben.
Sie blickte hinab auf die alte Stadt mit ihren unterschiedlich großen Kuppeln und Glockentürmen, die aus einem Meer roter Ziegeldächer ragten. Außerhalb des befestigten Zauns, der die gesamte Stadt umgab, sah sie den braunen Klecks der Hüttensiedlung und dahinter den Gürtel landwirtschaftlichen Nutzlands mit seinen groben Mauern, den Pappelreihen und leuchtend gelben Feldern sowie die verstreuten dunklen Flecken geduldig fressender Kühe und Lamas. Noch weiter draußen leuchtete die Kuppel des funkelnagelneuen Atomreaktors hell in der Sonne.
Als die Maschine höher stieg, verschwand die Stadt, die sich in ihr Becken schmiegte, in der faltigen Landschaft aus Berggipfeln und Tafelbergen, drapiert mit tief hängenden Wolken, die Rauchfahnen glichen. Dies waren die Anden, eine Gebirgskette, die in Höhe und Ausdehnung nur vom Himalaja übertroffen
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