Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
jeder hier auf dem Palatin wusste, dass dies der Tag war, an dem die Päpste Rom schließlich verließen, nachdem der Vatikan bereits verloren war - das Ende einer zwei Jahrtausende langen, turbulenten Geschichte.
Der Hubschrauber gewann an Höhe, schwenkte ab und flog westwärts in Richtung des steigenden Meeres, wo ein amerikanischer Flugzeugträger wartete, um den Heiligen Vater aufzunehmen. Die Polizei rückte in die Menge vor und begann, sie zu zerstreuen.
Jemand rief mit rauem australischem Akzent: »Nächste Haltestelle Mekka!«
55
AUGUST 2031
Amanda schickte einen Wagen, der Lily zu ihrem Haus auf der anderen Seite von Cusco bringen sollte. Lily wartete mit einiger Nervosität auf das Treffen.
Der Wagen hielt vor Lilys Tür. Es war eine von Nathan Lammocksons neuen, schnittigen Limousinen mit Wasserstoffantrieb; im Innern roch es angenehm. Der Wagen setzte sich lautlos in Bewegung.
Elf Jahre nach ihrer Ankunft in Project City - sechs Jahre nach Benjs Tod - sah Lily ihre Schwester nur noch selten von Angesicht zu Angesicht. Nach den tödlichen Schüssen auf Benj war die Spannung zwischen Amanda und Piers unerträglich geworden. Und Piers’ eigentümliche Vernarrtheit in Kristie, die für Lily nicht mehr zu übersehen war, seit Ollantay sie vor all diesen Jahren darauf hingewiesen hatte, war geblieben und half auch nicht gerade, die Stimmung zu verbessern.
Doch nun hatte Kristie sich mit ihrer Mutter und ihrer Tante in Verbindung gesetzt und beide gebeten, nach Chosica zu kommen, wo Ollantay, wie Lily zu ihrer Überraschung erfuhr, an Lammocksons Arche-Drei-Projekt mitarbeitete. Lily fand, dass sie eine solche Bitte nicht abschlagen konnte, und sie glaubte, dass auch Amanda sie nicht ignorieren würde. Darum hatte sie ihre Schwester angerufen und vorgeschlagen,
darüber zu reden. Sie war ein wenig überrascht, als Amanda einwilligte, sich mit ihr zu treffen.
Zumindest war der Wagen bequem. In gewissem Sinn repräsentierte er den Kern von Lammocksons Vision für Project City, dachte Lily, einer Vision, die eine Dekade nach der Gründung der Stadt endlich Wirklichkeit werden sollte. Die beiden Atomkraftwerke und die Wind- und Solarfarmen spalteten Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff auf; Letzterer trieb die Landwirtschaftsfahrzeuge und die Handvoll Privatwagen der Stadt an, deren Tanks praktisch als mobile Energiespeicher dienten. Der Wagen war ein Symbol einer neuen Lebensweise mit dezentralisierten, anpassungsfähigen, robusten, langlebigen und sauberen Systemen ohne Verschleiß oder Abfall. Das war jedenfalls der Traum.
Und in diesem introvertierten, statischen Hightech-Utopia lebte Amanda die ganze Zeit. Sie wagte sich nur selten aus dem Haus, und wenn sie der einen oder anderen Feierlichkeit beiwohnen musste, brauste sie stets in einer von Villegas’ Limousinen schnurstracks dorthin, um so wenig wie möglich von der muffigen, mit Abwassergestank befrachteten, kohlendioxidreichen Luft der Stadt einzuatmen. Mit Sicherheit sah sie niemals das Umland von Project City, die Hüttensiedlungen wie P-ville oder das Leid in den chaotischen Regionen ganz außerhalb von Lammocksons Einflussbereich.
Als Lily bei Villegas’ Miniaturpalast eintraf, verspürte sie ein seltsames Widerstreben, aus dem Wagen zu steigen.
Der Butler empfing sie an der Tür und führte sie in das alte Hotel. Die Klimaanlage stammte aus der ehemaligen amerikanischen Botschaft in Lima und kühlte stark, aber angenehm.
Lily nahm ihren Hut ab, zog den reflektierenden Poncho aus und rieb sich vor einem Spiegel in der Nähe der Tür die Sonnencreme vom Gesicht; es kostete sie einige Mühe, das ölige Zeug aus den tiefer werdenden Falten ihrer fünfundfünfzigjährigen Stirn zu bekommen.
Der Butler wartete. Jorge stand schon seit Jahren in Amandas Diensten. Er studierte an Lammocksons technischem College, wo er seinen Doktor in Biotechnik machen wollte, und war ziemlich überqualifiziert für die Aufgabe, herumzustehen und den Leuten den Mantel abzunehmen. Aber wenn man in Project City reich war, hatte man die freie Auswahl unter dem Schwarm von Flüchtlingen, die sich weiterhin aus den Tälern heraufquälten; es gab intelligente, schöne Menschen, die weitaus Schlimmeres für einen Platz auf dem höher gelegenen Gelände taten.
Jorge geleitete Lily in das große Wohnzimmer, die alte Hotellobby mit ihrer Mauer aus Inka-Steinen, wo Amanda auf einem Ledersofa saß. Sie trug einen weiten Hosenanzug, hatte die Beine unter den Körper
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