Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
dieser Verantwortung, obwohl es moralisch in keiner Weise sein Fehler gewesen war. Nichts von alledem hatte Amandas Einstellung ihm gegenüber geändert.
»Sieh mal, Piers ist kein schlechter Mensch. Er schultert so viel Verantwortung wie nur irgendjemand hier. Wir haben alle unsere Schwächen. Wir machen alle Fehler.«
Amanda verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Juan macht keine Fehler. Oder vielmehr, er glaubt, dass er keine macht. Momentan ist er mit der Heiligen Garde unterwegs. Sie patrouillieren in den östlichen Ausläufern der Anden, auf der Suche nach Flüchtlingen.«
Da der Meeresspiegel weiter gestiegen war - mittlerweile um verblüffende vierhundert Meter -, riss der Strom der Flüchtlinge nicht ab. Darum hatte Lammockson die Heilige Garde geschaffen, knallharte, schwer bewaffnete Einheiten, die ins Chaos hinausgingen und alles Erforderliche taten, um die Flüchtlingsschwärme abzuwehren. Viele Gardisten wurden in Pizarroville rekrutiert - die verzweifelten Armen, die darum kämpften, das Wenige zu behalten, was sie besaßen.
»Ist ein harter Job«, sagte Lily. »Ich könnte das nicht.«
»Das ist das Problem«, erwiderte Amanda. »Juan kann’s auch nicht - oder er konnte es nicht, bis er sich den Leuten
vom Neuen Bund anschloss. Er ist ein Mensch mit einem Gewissen, ob du’s glaubst oder nicht. Er muss einen Weg finden, seine Handlungen zu rechtfertigen.«
Lily kannte die Theorie. Wenn Gott den Bund brach, den er nach der biblischen Sintflut mit Noah geschlossen hatte - Erstes Buch Mose, 9, 11: »Niemals wieder soll eine Sintflut kommen, um die Erde zu verderben« -, konnte das nur daran liegen, dass die Menschen ihn als Erste gebrochen hatten. Aber bestrafte Gott die gesamte Menschheit? Jene, die klug genug gewesen waren, frühzeitig auf höher gelegenes Gelände zu ziehen, waren doch gewiss eine Art Auserwählte, erhoben aus der Herde der Sünder, und hatten die Pflicht, sich selbst für ein neues, kommendes Zeitalter nach der Sintflut zu erhalten. Und umgekehrt zeigten jene, die nicht klug genug gewesen waren, sich vorzubereiten, wie schwach und sündhaft sie waren. Darum hatten die Auserwählten der Höhen die heilige Pflicht, am Leben zu bleiben und nicht von ihrem Land zu weichen.
»Sie haben hier Sitzungen abgehalten«, sagte Amanda, die eine Haarsträhne um ihre Finger wand. »Geschäftsleute wie Juan, aber auch Soldaten, Ärzte und Priester. Ich muss für Getränke und was zum Knabbern sorgen, während sie über die beste Methode, Flüchtlinge mit Maschinengewehren umzulegen, und über die moralische Rechtfertigung für die Ausmerzung reden.«
»›Ausmerzung‹?«
»Wir hatten einen Arzt hier, der über ›Apoptose‹ gesprochen hat, einen Vorgang im Körper - kranke Zellen begehen Selbstmord, um den gesunden Platz zu machen. Es wurde reichlich kompliziert, theoretisch gesehen. Sie haben ganze
Romane geschrieben, um ihre Taten zu rechtfertigen - steht alles im Netz, du kannst es lesen, wenn du willst.«
»Gott, Amanda. Ich weiß nicht, wie du damit fertig wirst.«
»Ich hasse es, wenn du’s wissen willst«, brach es plötzlich aus Amanda hervor. »Du etwa nicht? Ich hasse unsere ganze Lebensweise hier. Wir leben hinter Mauern, hinter Stacheldraht und Maschinengewehrtürmen, während alle anderen verhungern. Nathan mit seinen verrückten Plänen, seinen genmanipulierten Feldfrüchten, seinem Meeresbergbau und seiner dämlichen Arche. Leute wie Juan, die früher mal durchaus anständig waren, drehen jetzt durch wegen der Dinge, die sie tun, um am Leben zu bleiben. Und ich hab einen toten Sohn und eine Tochter, die nicht mit mir sprechen will, außer wenn sie mich braucht, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Ich hasse das alles. Mit meinem Leben ging’s bergab, als Jerry uns verlassen hat, und seitdem ist es immer schlimmer geworden. In unserer Jugend in Fulham hätte ich mir nie träumen lassen, dass es mal so weit kommen würde.«
»Nein.« Lily verspürte den Impuls, zu ihr zu gehen und sie zu trösten, aber Amanda wandte den Blick ab. Lily stand auf und stellte ihren Drink hin. »Ich muss mich auf meinen Ausflug nach Lima vorbereiten. Ich rufe dich an, wenn ich wieder da bin. Und dann fahren wir zusammen zu Kristie, ja?«
»Wie du willst.« Amanda nippte an ihrem Drink, wedelte mit der Hand, und die Stimmen der Soap-Figuren schwollen an, bis ihr Dröhnen den leeren Raum erfüllte.
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Piers hatte ein wenig nachgeholfen, damit Lily einen Platz in einem
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