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Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood

Titel: Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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ich wie meine Westentasche.«
    »Klar«, sagte Gary. »So wie du Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua gekannt hast …«
    »Hey!« Domingo drehte sich um und grinste Gary an. Im grün verschatteten Licht war sein Gesicht so dunkel, dass man seine Miene kaum erkennen konnte. »Hab ich euch je enttäuscht?«
    »Jeden beschissenen Tag, Kumpel«, sagte Gary trübselig.
    Das stimmte, aber nur teilweise. Auf ihrem Marsch durch Amerika nach Süden hatten die Wanderarbeiter rasch gelernt, dass sie Führer brauchten. Man konnte sich nicht mehr auf die kostbaren alten Karten verlassen, die die Bürgermeisterin in ihrem verschlossenen Schrankkoffer mitführte; selbst die GPS-Daten, die von einem zunehmend lückenhaften Satellitennetz kamen, reichten nicht aus, denn die Welt veränderte sich kontinuierlich, weil das Meer immer größere Teile des tiefer gelegenen Landes wegfraß.
    Und dann war da die Politik, soweit es so etwas überhaupt noch gab. Auf dem Weg nach Süden hatten sie den Einflussbereich der beiden mehr oder weniger funktionierenden Regierungen in den Überbleibseln der Vereinigten Staaten - der kümmerlichen Reste der Regierung, die sich immer noch in Denver verschanzte, und ihres tödlichen Rivalen, der Mormonen-Administration in Utah - bald weit hinter sich gelassen. Das Gesetz wurde auf lokaler Ebene oder gar nicht durchgesetzt. Mancherorts konnte man arbeiten und bekam dafür Nahrung, sauberes Wasser und ein Stück Land, auf dem man sein Lager aufschlagen durfte. Woanders raubten
Banditengemeinschaften die Flüchtlinge aus, die ihr Gebiet passierten; allerdings war die immer noch Tausend Menschen umfassende wandernde Stadt für gewöhnlich stark genug, um alle bis auf die entschlossensten Räuber abzuschrecken. Die Welt war ein in stetem Wandel begriffener Flickenteppich von Gelegenheiten und Gefahren. Darum brauchte man jemanden, der zuverlässige Ortskenntnisse besaß.
    Domingo Prado hatte sich Walker City an der mexikanischen Grenze angeschlossen. Es gab Schlimmere als Domingo. Er war in Zentralamerika herumgekommen und kannte sich dort wirklich einigermaßen aus. Allerdings machte er auch jede Menge Fehler, hauptsächlich dank seiner Gewohnheit, in zweifelhaften Situationen zu bluffen, statt seinen Mangel an Wissen zuzugeben. Aber zumindest waren es ehrliche Fehler, dachte Gary immer. Domingo redete nicht viel über seine Vorgeschichte, darüber, auf welche Weise er sein wie auch immer geartetes Heim verloren hatte, ob er eine Familie gehabt hatte, eine Frau, Kinder. Es gab massenweise Menschen wie ihn auf der Welt, Entwurzelte, Überlebende einer in den Fluten versunkenen Vergangenheit. Als Gegenleistung für seine Führertätigkeit wollte er nur etwas zu essen und die Chance, umherziehen und ein paar Abenteuer erleben zu können.
    Wie auch immer, jetzt, wo sie in diesem Wald festsaßen, hatte Gary keine andere Wahl, als Domingo zu vertrauen, und so arbeiteten sie sich weiter vorwärts.
    Etwas huschte durchs Unterholz, und Gary erschrak - vielleicht ein Opossum. Und über ihnen flatterte ein Vogel auf, ein Aufblitzen von Farbe, Gekrächze. Er hatte keine Ahnung, was für Tiere das waren. Sie befanden sich in der
Landenge von Panama, an einem Ort, wo vor nur drei Millionen Jahren zwei Kontinente kollidiert waren und sich seit dem Auseinanderbrechen der Superkontinente getrennte Faunen und Floren miteinander vermischt hatten. Der große amerikanische Austausch, wie man es nannte. Das Ergebnis auf dieser Brücke zwischen zwei Welten war exotisch und Gary unbekannt. Der Regenwald war wie eine Kathedrale, dachte er, das grüne Blätterdach wie Buntglas, und das gefilterte Licht schien auf Bäume, die so schlank waren wie gotische Säulen. Die meiste Zeit musste er sich darauf konzentrieren, wohin er die Füße setzte. Aber es war schön hier, wunderschön.
    Er hörte ein leiseres Rascheln, irgendwo hinter ihm. Wachtrupps der Bürgermeisterin, die ihnen auf Schritt und Tritt folgten. Man reiste niemals allein.
    Dann brachen sie ganz plötzlich aus dem Dschungel hervor. Und Gary erkannte, dass Domingo heute vielleicht die Mutter aller Fehler gemacht hatte. Denn sie standen vor offenem Wasser.
     
    Der Hang führte zum Rand des Wassers hinunter, das sich nur zehn oder zwanzig Meter unterhalb ihres Standorts ausbreitete. Man sah, dass der Dschungel überflutet worden war. Ein zerrissener, lückenhafter grüner Teppich überzog den Hang; einige überlebende Bäume ragten noch über die Wasseroberfläche

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