Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
hinaus. Jenseits davon erstreckte sich das Wasser vor ihnen grau und still in die Ferne, bis sich etliche Kilometer im Nordosten weitere grün gekleidete Hügel erhoben.
Im Freien brannte die Sonne sengend heiß vom Himmel.
Sie zogen sich zu einem schattigen Fleckchen zurück, wischten sich die Stirn ab, knöpften die Hemden auf, zogen schweißgetränkten Stoff von ihrer Haut.
»Scheiße«, sagte Domingo. Er hockte sich auf die Fersen und schlug mit seinem Hut nach Fliegen.
»Und was ist das?«, fragte Grace.
»Die Kanalzone.« Domingo machte eine Handbewegung. »Genau an dieser Stelle macht der Isthmus« - ein Wort, das er kaum aussprechen konnte - »einen Bogen. Er verbindet Nord- und Südamerika, aber hier windet er sich für ein paar Hundert Kilometer nach Nordosten. Dieses ganze Gebiet ist durch den Bau des Kanals verändert worden - der mehr war als ein bloßer Kanal. Er war so was wie eine flüssige Brücke, mit Schleusen auf beiden Seiten, in denen die Schiffe in die Höhe gehoben wurden. Der Gatún-See war genau hier. Er ist durch einen Staudamm auf der atlantischen Seite entstanden.«
Gary sah den Hang hinunter. »Das ist nicht der Gatún-See. Bestenfalls ist es irgendeine Überschwemmung im Landesinneren. Schlimmstenfalls ist das Meer durchgebrochen.«
»So oder so sind wir in Schwierigkeiten.«
»Gibt nur eine Möglichkeit, rauszufinden, was es ist«, sagte Grace. Sie stand auf, setzte sich wieder ihre uralte Baseballkappe auf und ging vorsichtig hangabwärts zum Wasser hinunter.
Die Sonne stand hoch am Himmel und warf blendende Glanzlichter auf die Wasseroberfläche. Aus Garys Perspektive war Grace eine Silhouette; das strahlende Licht um ihren Körper ließ sie schlanker, sogar größer erscheinen, als sie
war. Er sah die Muskeln an ihren nackten Armen, die drahtigen Bizepse. Sie war jetzt zwanzig Jahre alt, ein schwieriger Teenager war zu einer starken Frau herangewachsen. Man konnte sie nicht als schön bezeichnen, dachte Gary immer, jedenfalls nicht im konventionellen Sinn. Sie sah aus wie eine Sportlerin, wie eine Arbeiterin. Für ihn lag ihre Schönheit jedoch in ihrer Gesundheit, ihrer Kraft und Körperhaltung, eine Art Cro-Magnon-Schönheit, die zu der Welt passte, in der sie aufgewachsen war - einer Welt, in der sie schon im zarten Alter von fünf Jahren zu einem Flüchtling geworden war.
Gary beobachtete sie mit einer Aufwallung von Stolz. Er hätte sie niemals vor der Flut bewahren können - er und Michael Thurley, der arme Michael, der fern von seiner Heimat an den Messerwunden gestorben war, die er in Nebraska erlitten hatte. Aber es war ihnen gelungen, sie durch ihre Kindheit und ihre Jugend zu bringen, so dass nun eine selbstbewusste, tüchtige, für eine gefährliche Welt gerüstete, körperlich und vor allem geistig gesunde Erwachsene aus ihr geworden war. Es gab wahrscheinlich erheblich schlimmere Schicksale für eine junge Frau, die in dieser entwurzelten Zeit aufwuchs.
Grace erreichte den Rand des Wassers. Sie hockte sich hin, tauchte die Hand in das plätschernde Nass und hob eine Handvoll an den Mund. »Salz«, rief sie.
»Das wär’s dann also«, knurrte Domingo. »Die großartigste technische Errungenschaft der Menschheit - dahin! Im Wasser versunken wie eine Sandburg am Strand.«
»Und der Isthmus ist durchschnitten«, sagte Gary. »Nordund Südamerika sind zum ersten Mal seit drei Millionen
Jahren getrennt. Verblüffend, wenn man darüber nachdenkt.«
Domingo zog eine Augenbraue hoch. »Unser Problem ist, wenn wir jemals zu euren Freunden in den Anden gelangen wollen, müssen wir das Wasser überqueren. Aber wie?«
»Zum Beispiel mit einem Boot?« Grace stand auf und zeigte nach Osten, am Ufer der Meerenge entlang.
Ein Boot, eine ramponiert aussehende Segelyacht mit einem glänzenden Mast, lag auf dem Wasser, lose an einen sterbenden Baum gebunden.
63
Sie wurden vom Boot aus angerufen. »Wie viele seid ihr?«
Gary warf Domingo einen Blick zu. »Amerikanischer Akzent. Florida vielleicht?«
»Könnte sein.«
Gary formte die Hände zu einem Trichter und rief zurück: »Wir sind zu dritt hier. Andere im Wald.«
Eine Pause. Dann: »Ich habe von hier aus meine Waffe auf euch gerichtet. Und ein paar meiner Jungs sind über euch, die haben euch von hinten im Visier. Kapiert?«
»Kapiert.«
So war es immer - bestenfalls -, wenn man auf Fremde traf. Eine Demonstration der Stärke, Imponiergehabe mit Waffen und Kriegern, die existieren mochten oder auch nicht. An
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