Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
bei den Evakuierungsoperationen zu helfen.
Gary, der für einen Augenblick allein zurückblieb, ging zum Flussufer. Er musste sich in den Wind lehnen, und der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Es war ein Juli-Nachmittag, die Luft war nicht kalt, aber wegen der tief hängenden, dahinjagenden Wolken war es so dunkel wie an einem späten Herbsttag.
Die Pfeiler des Sperrwerks zogen sich über den Fluss, fünf Stockwerke hohe, im Regen glänzende Stahlsegel. Die Tore zwischen den Pfeilern waren bereits hochgefahren worden, dicke, hohle Stahlblechsegmente von jeweils zwanzig Meter Höhe, die an gewaltigen Rädern nach oben gedreht wurden, um das Sperrwerk zu einer massiven Wand zu machen, die sich sieben Meter über den normalen Wasserspiegel erhob. Rote Lichter an den Pfeilern warnten alle Schiffe, dass der Fluss abgeriegelt war. Gary hatte das Sperrwerk noch nie von nahem gesehen, seine Ausmaße beeindruckten ihn. Jeder der vier schiffbaren Kanäle in der Mitte war so breit wie die zentrale Spanne der Tower Bridge, und jedes Tor wog viertausend Tonnen. Das Sperrwerk war ein Monument, das für den Versuch des Menschen stand, die Natur zu beherrschen.
Heute jedoch stellte die Natur das von Menschenhand Errichtete auf die Probe. Auf der stromabwärts gelegenen Seite stand das vom Meer hereindringende Wasser bereits deutlich höher als stromaufwärts; Gischt sprang über die sauberen Linien der Tore.
Und durch das Brausen des Windes hörte Gary überall an der Themsemündung Sirenen heulen.
Zwei Gestalten kamen auf ihn zu, beide in leuchtend orangefarbene Mäntel gehüllt. »Gary? Bist du das? Du wirst noch weggeschwemmt werden, du Arsch. Muss dich wohl an die Leine nehmen, wie’s diese durchgeknallten Christen in Barcelona getan haben.«
»Freut mich auch, dich zu sehen, Thandie!«
Sie schlang ihre dick verpackten Arme um ihn. Thandie Jones war Ozeanografin. Zum Zeitpunkt von Garys Entführung
hatte sie an Wettermodellen und Klimawandel-Studien für die NOAA gearbeitet, die Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten. Sie war eine schwarze Chicagoerin mit markanten Zügen, größer als Gary, drahtig und von jeher stärker als er.
Der Mann an Thandies Seite hatte die Kapuze bis über den Mund gezogen, so dass nur seine Nase und die bebrillten Augen zu sehen waren.
»Gary Boyle«, sagte Thandie, »darf ich dir Sanjay McDonald vorstellen. Auch so ein Klimamodellierer, der arme Trottel.«
Sanjay entblößte ein bärtiges Gesicht und ergriff Garys Hand. »Ich arbeite bei Hadley - das heißt, am Hadley Centre für Klimaforschung, einer Einrichtung des meteorologischen Amtes. Ich habe alles von Ihnen gehört. Freut mich, Sie kennenzulernen, Gary. Sie sind bestimmt froh, bei Ihrer Rückkehr gleich so richtig ins dickste Wetter geraten zu sein.«
»Gut«, sagte Thandie. »Apropos Wetter - machen wir, dass wir reinkommen.«
Sie lief voran zum Kontrollturm. Dort stieg sie mit Gary in eine Art Garderobe hinunter, wo sie ihn mit Schutzkleidung ausstattete: Neoprenanzug, Stiefel, Thermojacke, Helm, sogar eine Schwimmweste. Gary hatte in Thandies Gegenwart noch nie Hemmungen gehabt. Er zog sich aus und zwängte sich in den Neoprenanzug, der ihm nicht ganz passte.
»War nett von dir, dass du mir deinen Besuch telefonisch angekündigt hast. Du bist nämlich eine klitzekleine Berühmtheit, Boyle.« Thandie hielt Daumen und Zeigefinger ein unsichtbares Stück weit auseinander. »Berühmt genug, dass
man mir den angeforderten Hubschrauber genehmigt hat. Wir gehen auf Sturmjagd.«
Er erwiderte ihr Grinsen. »Ich wusste, dass es eine gute Idee war, dich anzurufen.«
»Ihr beiden kennt euch anscheinend recht gut«, sagte Sanjay.
»Wir waren zusammen am MIT«, erklärte Gary. »Ich habe bei Thandie studiert. Dann bin ich ans Goddard gegangen, und Thandie hat den Kürzeren gezogen und bei der NOAA angefangen.«
»Ja, ja«, schoss sie lächelnd zurück.
»Aber wir waren auf demselben Gebiet tätig - Erstellung von Klimamodellen -, wobei Thandie sich auf die Wechselwirkung zwischen Ozean und Atmosphäre konzentriert hat. Na ja, das wissen Sie vermutlich. Wir haben gemeinsam an ein paar Vorhersagemodellen gearbeitet, um den Wiederaufbau der Deiche in New Orleans nach Katrina zu unterstützen.«
»Die Welt der Klimamodellierer ist klein«, sagte Sanjay ernst. Gary fand, dass er asiatisch aussah, aber sein Akzent war so schottisch wie sein Nachname.
Thandie sah Gary an. »Wir haben dich vermisst. Ich bin mit deiner
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