Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
abreißen wird. Und der Luftdruck sinkt. Neun siebzig. Neun fünfundsechzig … Das Radar funktioniert, das Sonar weniger, wie zu erwarten. Wäre hilfreich, wenn wir mit dieser Schüssel nicht rumtanzen würden wie auf der Achterbahn.«
»Ich tue, was ich kann, Schlauberger.«
Gary hatte keine Ahnung gehabt, dass es hier draußen all diese Industrieanlagen gab. »Sieht aus wie eine eigene Stadt. Und irgendwie ungeschützt, oder?«
»Was Brennstoff betrifft, ist London ein großes, durstiges Monster. Aber sie sind hier auf Überschwemmungen vorbereitet, sie führen entsprechende Übungen durch.« Thandie drückte auf einen Knopf, und sie fingen den Funkverkehr eines Raffinerie-Teams auf, das gerade dabei war, die Anlage stillzulegen, und in aller Eile Checklisten bezüglich der Pumpen, Hochöfen, Kompressoren, Ventile und katalytischen Cracker abarbeitete.
»Die sind aber ziemlich spät dran«, sagte Gary. »Der Sturm steht doch schon seit Schottland unter Beobachtung.«
»Eine Hochwasserwarnung ist eine kostspielige Angelegenheit«, erwiderte Thandie. »Auf der Schwemmebene der Themse leben über eine Million Menschen. Da gibt man keinen Alarm, wenn’s nicht unbedingt sein muss. Der Schiffsverkehr ist auch ein Problem, das Sperrwerk scheint heutzutage öfter geschlossen als offen zu sein. Und diese Raffinerien stillzulegen ist kein Spaß, da legt man nicht so einfach einen Schalter um. Es kostet einen Haufen Geld, die Prozesse herunterzufahren. Blinder Alarm ist äußerst unbeliebt. Die Leute haben schreckliche Angst davor, haftbar gemacht und mit Prozessen überhäuft zu werden.«
»Und in diesem Fall«, ergänzte Sanjay, »waren die Fehlermargen bezüglich der wahrscheinlichen Bahn und der Auswirkungen des Sturms einfach zu groß, als dass man hätte sicher sein können. Wie gesagt, unsere Modelle funktionieren nicht mehr. Noch schlimmer, die Schnittstellen zwischen verschiedenen Modellen funktionieren auch nicht so gut …«
Gary kannte das Prinzip. Mathematische Modelle der Wettervorhersage gingen im Allgemeinen von einer Trennung der Elemente Land, Luft und Meer aus. Man beobachtete verschiedene Variablen, wie Luftdruck, Temperatur und Windgeschwindigkeit, und maß deren Veränderungen beim Übergang von einem Element zum anderen. Wenn beispielsweise Wasser verdunstete, ging es vom Element Meer in das Element Luft über. So konnte man etwa ein grobes Modell für die gesamte Nordsee laufen lassen, und wenn ein Sturm über den Wash oder die Themsemündung hinwegzog, speiste man die vom Meeresmodell vorhergesagten
Bedingungen in kleinräumigere Modelle ein, um zu sehen, was darin geschah. Erfahrungsgemäß scheiterten solche Modelle jedoch, wenn irgendeine grundlegende Veränderung im physikalischen Zustand der weltweiten Wettersysteme auftrat. Für das Nordseemodell konnte es zum Beispiel von immenser Bedeutung sein, wie viel Regen zuvor in New York gefallen war. Gerade an den Rändern der Modelle und deren Übergängen multiplizierten sich dann die Fehler.
»Die letzte große Überschwemmung in London fand 1953 statt«, sagte Sanjay. »Dieses Ereignis hat zum Bau des Sperrwerks geführt. Ein großer Teil von Canvey liegt unterhalb des Meeresspiegels, dort gab es Tote. Aber bei der damaligen Überschwemmung traf das Tidehochwasser mit einer schweren Sturmflut zusammen.«
Der Tiefdruck im Herzen eines Sturms konnte die darunterliegende Meeresoberfläche anheben, sie zu einem Buckel mit einem Durchmesser von mehreren Hundert Kilometern hochsaugen. Und dann konnten die Winde das Hochwasser gegen die Küste oder in eine Flussmündung treiben. Das war eine Sturmflut.
»Und, ist das hier eine?«, fragte Gary. »Fällt sie mit einem Tidehochwasser zusammen?«
»Der Sturm treibt Wellen vor sich her, aber ich würde das nicht unbedingt als Sturmflut bezeichnen. Und was das Tidehochwasser betrifft, so sind die Vorhersagen jetzt völlig chaotisch.«
»Die Schlüsselmerkmale des Ereignisses von 1953 fehlen hier also. Und trotzdem gibt’s eine Überschwemmung.«
»Sieht ganz so aus. Dabei ist es nicht mal ein besonders
schwerer Sturm.« Sanjay klang unglücklich, als wäre die wirkliche Welt ein Sandkorn in der Austernschale seiner Wissenschaft.
»Ach du Scheiße, da kommt sie!«, rief Thandie plötzlich.
Der Hubschrauber sackte ab und bockte, als Thandie ihn wieder über den Fluss brachte, damit sie besser sehen konnten.
Gary sah die Welle kommen - Wasser, das der Nordseesturm emporgehoben hatte und vor
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