Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Leute,
Mütter und Babys seit Wochen in Schulen und Gemeindehallen fest. Und falls es noch ein paar Tage so weitergeht, werden die ersten Epidemien ausbrechen. Typhus, Cholera. Außerdem ist das Wasser voller Giftstoffe aus den Industriegebieten. Ganz zu schweigen von den Menschen, die jetzt schon verhungert und verdurstet sind. Mit all dem haben wir auch dann noch eine ganze Weile zu kämpfen, wenn es zu keiner weiteren Überschwemmung kommen sollte.«
Dieser letzte Satz mit seinem Wenn ließ sie frösteln.
»Wir wollen alles in unserer Macht Stehende tun, um eine vollständige Evakuierung Londons zu vermeiden. Das wäre wirklich nur der letzte Ausweg, wenn alle Stricke reißen. Aber wir bereiten uns natürlich darauf vor. Wir schaffen Sturm- und Schlauchboote, Sanitätswagen, Feldlazarette und schweres Gerät aus dem ganzen Land herbei. Es ist wie ein neuer D-Day! Außerhalb der Stadt errichten wir Wohnwagencampingplätze und Zeltstädte auf hoch gelegenem Gelände, in den Chilterns, den South Downs und so weiter, ja sogar bis rauf nach Birmingham. Die Militärpolizei hält uns die Ausfallstraßen aus London frei. Aber wirklich Millionen umzusiedeln, ist ein schrecklicher Gedanke. Ich meine, wir müssen die meisten von ihnen zu Fuß losschicken. Ganz zu schweigen davon, dass die Bürger in den Auffanggebieten von der Idee, so viele obdachlos gewordene Londoner bei sich aufzunehmen, nicht gerade begeistert sind. Vermutlich genießen es die Tellermützen-Heinis im Norden geradezu, London vor die Hunde gehen zu sehen! Aber es ist nun mal so, dass wir eine Hauptstadt haben, deren Infrastruktur zerstört ist - Wasser, Verkehr, Kommunikation, Strom. Millionen sind obdachlos. Allein schon die Versicherungsansprüche
könnten den Finanzsektor ruinieren. Die internationalen Banken und so weiter haben ihre Disaster-Recovery-Zentren schon umgesiedelt - unser Freund Lammockson hat zweifellos einen Haufen Geld damit gemacht. Und was sollte sie zur Rückkehr bewegen? Es wird Jahre dauern, bis London sich davon erholt hat, falls überhaupt. Und darum gibt es Grenzen dafür, was dieses Land sich leisten kann …«
»Aber wir müssen es versuchen. Ich glaube, du freust dich sogar auf diese Aufgabe, Piers, obwohl du so ein Schwarzseher bist.«
»Ja, schon möglich. Ich gebe zu, es ist schön, morgens aufzustehen und etwas zu tun zu haben. Allerdings bin ich Realist, glaube ich. Nichts wird je wieder so sein, wie es war. Aber irgendwie kommen wir schon wieder auf die Beine - wenn das Wasser sinkt.«
Erneut fiel ihr dieses Wort auf. Wenn .
Sie fuhren unter der Lambeth Bridge und der Westminster Bridge hindurch. Der vom Wasser umspielte Palace of Westminster war von innen erleuchtet; ein Rest der Regierungsmaschinerie arbeitete trotzig innerhalb seiner Mauern weiter.
Kurz vor der Hungerford Bridge lenkte Harry das Fahrzeug vorsichtig ans Ufer. »Ich peile die Mittellinie der Northumberland Avenue an«, sagte er leise, während er sich konzentrierte, den Blick ebenso auf seine Sensoren gerichtet wie auf die Laternenpfähle und Häuserfassaden, die um ihn herum aus dem Wasser ragten. »Muss aufpassen, dass wir nirgends hängen bleiben …«
Der Trafalgar Square kam in Sicht. Lily sah, dass ein Chinook stolz vor den Stufen der National Gallery stand.
Harry schaltete den Motor aus und sprang ins Wasser, das ihm bis zur Mitte seiner Watstiefel reichte. Er machte das Boot an einem Laternenpfahl vor einer zerstörten Reihe von Geschäften an der Südseite des Platzes fest und half Piers und Lily ins Wasser. Dann stieg er wieder ins Boot, um auf sie zu warten.
Sie wateten die paar Meter zum Platz. Das Wasser war hier noch dreckiger als stromaufwärts in Fulham, durchsetzt von schwimmendem Abfall, aufplatzenden Müllbeuteln und Taubenkadavern. Auf dem Platz selbst war es nur wenige Zentimeter tief, doch um dorthin zu gelangen, mussten sie einen Militärkordon passieren. Abgesehen von weiteren Soldaten und Leuten, die in die Galerie hineingingen und mit Paketen beladen wieder herauskamen - offenbar Angehörige des Personals -, war der Platz leer. Lily blickte zur Northumberland Avenue zurück, auf der sie hergekommen waren. Die Londoner Gebäude ragten über dem Wasser auf, das sich bis zum Horizont erstreckte, flach, ruhig, in der Sonne glänzend.
»Ich muss immer wieder an diese Ältesten von Tuvalu denken«, sagte Piers unvermittelt. »Die bei Lammocksons Party, weißt du noch?«
»Was ist mit ihnen?«
»Ich wüsste gern, ob
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