Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Montreal, und dann dem Hudson Valley bis zum Flughafen von Newburgh folgen; näher bei New York City konnte man gegenwärtig nicht landen. Lammockson hatte dafür gesorgt, dass sie von dort nach Manhattan gebracht werden würden. Lily saß am Fensterplatz der Dreierreihe, die sie sich mit Gary und Thandie teilte. Sie hörte Passagiere munkeln, der »Sturm« sei in Wahrheit ein Hurrikan, der sich irgendwo westlich von Island zusammenbraue.
»Aber das ist doch lächerlich, oder?«, fragte sie. »So weit nördlich gibt’s keine Hurrikane. Und im Februar schon gar nicht.«
Gary, der am Gang saß, zuckte bloß mit den Achseln. »Wir leben in seltsamen Zeiten, Lil.« Er schloss die Augen und legte den Kopf an die Rücklehne.
Thandie, auf dem mittleren Sitz, reagierte überhaupt nicht. Ihr Blick klebte an einem Bildschirm an der Rücklehne des Sitzes vor ihr, der verschwommene Handheldbilder des Tsunamis von Istanbul zeigte.
Lily sah aus dem Fenster auf eine Wolkendecke. Eigentlich hätte sie von Klimatologen klare Antworten erwartet.
Aber sie waren wohl alle müde - so müde, dass sich nicht einmal Wetterfreaks wie sie für einen ungewöhnlichen Sturm interessierten.
Nathan Lammockson hatte Thandie erst in letzter Minute telefonisch gebeten, nach New York zu kommen, um ihre wissenschaftlichen Ergebnisse im Freedom Tower einem Unterausschuss des Weltklimarats vorzutragen; so lief das heutzutage nun einmal. In Thingvellir, der im Landesinneren gelegenen isländischen Stadt, in die das Forschungsteam umgezogen war, als Reykjavik den Fluten nicht mehr hatte standhalten können, hatten die drei hektische vierundzwanzig Stunden damit verbracht, ihr Material zusammenzupacken. Thandie war schon eine ganze Weile reisefertig gewesen, mit ihrem Präsentationsmaterial, ihren Schaubildern und Analysen, den seitenlangen mathematischen Berechnungen. Sie hatte ihre Schlussfolgerungen schon vor Monaten gezogen, schien es Lily. Seither hatten sie in mühseliger Routinearbeit die Proben vorbereitet, die als Belege dienen sollten, in Mylar-Hüllen und speziellen Kühlbehältern konservierte Bohrkernscheiben aus dem Meeresboden und jede Menge winziger Fläschchen mit Meerwasser, mit denen sich die versammelten Eierköpfe eingehend beschäftigen konnten. Sie waren schon müde gewesen, bevor sie das Flugzeug bestiegen hatten.
In Wahrheit war wohl jedermann erschöpft, dachte Lily. Die Überschwemmungen nahmen kein Ende, und der Meeresspiegel stieg immer weiter, ein ungleichmäßiger, von Extremereignissen überschatteter, gleichwohl unablässiger Anstieg. Piers hatte ihr erzählt, was für ein gewaltiger psychologischer Schock es in Regierungskreisen in Denver gewesen
war, als der Anstieg spielend die Zehnmetermarke überschritten hatte, die von den Vereinten Nationen und diversen Hilfsorganisationen inoffiziell zur Obergrenze im schlimmstmöglichen Fall erklärt worden war. Woods Hole meldete, dass der durchschnittliche Anstieg seit dem Jahr 2012, als man zum ersten Mal etwas von den Geschehnissen bemerkt hatte, weltweit dreizehn Meter betrug und sich in einem beschleunigten Tempo von drei Zentimetern pro Tag fortsetzte - eine Zunahme von nahezu zwölf weiteren Metern pro Jahr.
Auf der Ebene des Alltagslebens ging weiterhin alles drunter und drüber. So hätte sich der Pilot dieses Airbusses beispielsweise die Mühe sparen können, seinen Passagieren zu erzählen, dass sie umgeleitet wurden; damit rechnete man ohnehin. Da so viele große Flughäfen der Welt unter Wasser standen - darunter auch Knotenpunkte des Luftverkehrs, wie Heathrow und JFK -, waren die Routen und Flugpläne der Airlines völlig durcheinandergeraten. Vor dem Flug hatte Lily mit Amanda auf ihrem Wohnwagencampingplatz in den Chilterns gesprochen. Amanda hatte mit immer seltsamerem Wetter zu kämpfen; sie arbeitete jetzt zu Hause, weil es nicht mehr möglich war, in das überflutete London zu pendeln, und verbrachte den größten Teil ihrer freien Zeit damit, nach Wasser anzustehen oder Benj und Kristie zu überreden, weiterhin am Schulunterricht teilzunehmen, der jetzt in einem großen Zelt stattfand. Es machte einen fertig, selbst wenn man sich nicht in einer der Katastrophenzonen, wie Karatschi, Sydney, Florida, Louisiana, Sacramento und jetzt auch Istanbul, befand.
Jedermann auf dem Planeten war müde, dachte Lily. Und es war kein Ende in Sicht.
Der Pilot sagte durch, dass sie an Newburgh vorbei nach Süden fliegen, über New York City wenden und dann dem Hudson
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