Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
in nördlicher Richtung folgen würden, damit sie beim Landeanflug Gegenwind hatten. Als sich die Maschine über Long Island in die Kurve legte und in westlicher Richtung auf die Stadt zuhielt, blickte Lily aus dem Fenster und erkannte die markanten Umrisse der New York Bay. Sie wünschte, ihre geografischen Kenntnisse wären ein wenig besser. Die Jamaica Bay hatte sich in ein Binnenmeer verwandelt; irgendwo in dessen Randbereich lag der ebenso wie La Guardia im Wasser versunkene John-F.-Kennedy-Flughafen. An der Mündung der Bucht, bei Rockaway Point, sah sie eine blasse, weiße Linie, die die Meerenge überspannte und unter der blaugrauen Wasserfläche glitzerte: Das war der Deich, den die Behörden der Stadt hatten bauen lassen, um die Bucht und den Flughafen zu schützen - eine längst überflutete Barriere. Und während das Flugzeug nach Norden abbog, sah Lily einen zweiten Deich zwischen Brooklyn und Staten Island. Aber auch er war im Wasser versunken.
Nicht weniger als vier dieser großen Deiche waren binnen gerade einmal zwei Jahren gebaut worden. Der dritte überspannte den Arthur Kill zwischen Staten Island und New Jersey im Westen, der vierte den East River unterhalb der Whitestone Bridge weiter östlich zwischen Queens und der Bronx. Es war ein mächtiges System, das die verwundbaren Großstadtgebiete vor dem damals erwarteten Anstieg des Meeresspiegels um zehn Meter bewahren sollte, eine monumentale Leistung. Doch man hatte nicht einmal Zeit gehabt, die endgültigen Kosten zu berechnen, bevor das steigende Meer alles überflutet hatte.
Während die Maschine nach Norden flog, sah Lily, welche Verwandlung New York City selbst durchlaufen hatte. Aus Jersey City und Brooklyn waren große Stücke herausgerissen worden; Hausdächer ragten verloren aus dem Wasser. Die Uferlinie von Manhattan war überall auf fast schon fraktale Weise angeknabbert. Da Südmanhattan generell tiefer lag als der Norden, gab es dort die größten Überschwemmungen, aber sie wiesen ein unruhiges, ungleichmäßiges Muster auf, denn Manhattan war eine hügelige Insel. Ganze Streifen der überschwemmten Gebiete waren von Brandspuren gezeichnet. Und selbst die nicht vom Feuer beschädigten Gebäude mussten tödlich verwundet sein, das wusste Lily aus ihren eigenen Erfahrungen in London. Wände und Fußböden würden verfault und von Pilzen durchwuchert, die Fundamente unterhöhlt, die Fugen erhöhten Belastungen ausgesetzt sein. Sie sah auf Quadratkilometer der Verwüstung hinunter, auf Tausende von Häusern, Fabriken, Büros und Geschäften, die nie wieder bewohn- und benutzbar gemacht werden konnten, selbst wenn das Hochwasser schon morgen zurückweichen würde.
Sie ließen die Stadt hinter sich und flogen das Hudson Valley hinauf. Das Tal selbst war an manchen Stellen überflutet und trug die Narben der Evakuierung: von armseligen Hütten bedrängte Kleinstädte, kahle Hänge, wo die Bäume zu Brennholz verarbeitet worden waren. Auf beiden Seiten des Flusses hatte sich ein langgezogenes Flüchtlingslager ausgebreitet, ein Gewirr aus Zelten und Wagen, das sich fast bis nach West Point erstreckte. Zu Beginn der Überschwemmungen waren viele New Yorker aus einem ersten Impuls heraus den Hudson in nördlicher Richtung hinaufgezogen, auf der Suche nach
höher gelegenem Gelände. Manche waren bis nach Connecticut oder New Jersey gekommen, bevor das Militär und die städtischen Behörden die Freeways bei West Point gesperrt hatten. Lily wusste, dass es überall auf der Welt so war wie hier: Die Machthaber sperrten die Bevölkerung in den bedrohten Großstädten an den Flussmündungen und Küsten ein, um die Lage irgendwie im Griff zu behalten und gewalttätige Auseinandersetzungen mit den im Hinterland angesiedelten Menschen einzudämmen; dabei suchten sie fieberhaft nach Lösungen, die gewährleisteten, dass alle genug zu essen und zu trinken sowie ein Dach über dem Kopf hatten.
Als das Flugzeug zum Anflug auf die eilig hergerichtete Start- und Landebahn bei Newburgh ansetzte, erhaschte Lily einen Blick von der riesigen Neubausiedlung, die im Norden angelegt wurde, in unmittelbarer Nähe der Ausläufer der Catskills. Man hatte etliche Hektar braunen Erdreichs von Wald und Laubwerk befreit und mit Mosaiken aus klobigen Fertighäusern und einem noch hässlicheren, wuchernden Industriegebiet geschmückt. Dies war die Endlösung der Stadt, nachdem die Deiche und Dämme versagt hatten: ein weiteres gewaltiges Projekt, unter hohen Kosten
Weitere Kostenlose Bücher