Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
und in enormem Tempo realisiert. New York evakuierte seine elementaren Funktionen, seine Industrie und sich selbst aus der zum Untergang verurteilten Umgebung der Bucht auf höheres Gelände. Eine erstaunliche Umsiedlung von Millionen von Menschen, bei der Fabriken und Kraftwerke, Häuser, Schulen und Krankenhäuser abgerissen und wieder aufgebaut wurden. So versuchte ein reicher Staat, mit einer solchen Katastrophe fertig zu werden - indem er Neues aufbaute, indem er weitermachte.
Aber die Unausgewogenheit dieses Neubaugebietes war sogar aus der Luft zu erkennen. Lily sah weitläufige, eingezäunte Nobelsiedlungen mit Villen und Rasenflächen, ja sogar mit dem himmelblauen Schimmer von Swimmingpools, umgeben von Mauern, hinter denen sich schäbige Gemeinschaften von Zelten und Blechhütten ausbreiteten. Lily lernte gerade den aus Kriegs- und Katastrophenzonen in aller Welt übernommenen und nun hierher mitgebrachten Jargon: »grüne Zonen« für die Wohlhabenden, »FEMA-Lager« für die nicht so Betuchten. Und sie glaubte, winzige Funken im Land jenseits der neuen Siedlung zu sehen. Schüsse, ein Zeichen für den fortdauernden Krieg zwischen Anwohnern und Flüchtlingen, zwischen dem Staat und Survivalisten.
Thandie hielt noch immer den Kopf gesenkt. Sie starrte auf ihren Bildschirm.
»Das solltest du dir anschauen«, sagte Lily leise zu ihr. »Es ist wirklich erstaunlich. Eine ganze Stadt zieht um. Noch vor ein, zwei Jahren hätte man sich nicht träumen lassen, so was mal zu sehen.«
»Alles ist erstaunlich«, erwiderte Thandie mit tonloser Stimme. »Überall auf der Welt.«
»Siehst du dir immer noch Istanbul an?«
Thandie tippte auf den Bildschirm. »Ja, aber ich muss ständig den Kanal wechseln. Die meisten amerikanischen Sender zeigen, was in Sacramento los ist. Oder sogar in Washington D.C.«
Zu anderen Zeiten, dachte Lily, hätte jedes dieser Ereignisse eine große Story abgegeben. Sacramento war eine unerwartete, immer schlimmer werdende Katastrophe. Sturmfluten
hatten das Wasser des Pazifiks über das Flussdelta des Sacramento Dutzende von Kilometern ins Landesinnere getrieben und die Bewässerungsanlagen von Farmen zerstört, die Obst und Gemüse für das halbe Land lieferten. Als flutartige Überschwemmungen den Folsom-Damm oberhalb von Sacramento überspülten, sah sich die Stadt von zwei Seiten bedrängt, vom Fluss und vom Meer. Die hastig verstärkten Deiche brachen. Allein dort war jetzt eine Viertelmillion Menschen auf der Flucht.
»Aber das hier, Istanbul, ist noch größer«, sagte Thandie. »Weil es was Neues ist. Der Anfang der nächsten Phase.«
Lily runzelte die Stirn. Sie blickte auf den Bildschirm und sah eine Stadtlandschaft, die sich über Hügel und Schluchten ausbreitete; Kuppeln und Minarette ragten aus schmutzigem Flutwasser, eine Brücke war eingestürzt, ganze Stadtviertel brannten. Es waren allzu bekannte Bilder, Bilder, die überall hätten aufgenommen worden sein können. »Was sehe ich da?«
»Einen Blick von einem der höchsten Gebäude der Stadt. Ein Bankenhochhaus. Wahrscheinlich selbst katastrophensicher. Istanbul überspannt den Bosporus, die Meerenge, die das Schwarze Meer im Norden mit dem Marmarameer im Süden verbindet.« Thandie tippte auf den Bildschirm, rief damit eine Luftaufnahme auf und fuhr eine Linie entlang. »Das ist die Nordanatolische Verwerfung, wo sich die afrikanische Kontinentalplatte nordwärts gegen die eurasische Platte schiebt. Wie du siehst, verläuft sie parallel zur nordtürkischen Küste und dann unter dem Marmarameer hindurch. Es war klar, dass ein Erdbeben kommen würde. Im letzten Jahrhundert hat es acht Beben von der Stärke sieben
und mehr auf der Richter-Skala gegeben, die an der Verwerfungslinie entlang stetig auf Istanbul zugelaufen sind. Deshalb haben die Reichen moderne erdbebensichere Siedlungen auf dem harten Felsgestein der asiatischen Seite der Meerenge errichtet, die vielen Millionen Armen hingegen irgendwelche minderwertigen, illegalen Behausungen auf dem weichen Gestein der europäischen Seite.« Sie fuhr mit dem Finger über den Bildschirm. »Das Beben selbst hat zehntausend Häuser zum Einsturz gebracht. Die älteren Gebäude haben es im Großen und Ganzen besser überstanden als die modernen. Ich schätze, alles, was in einer solchen Region mehr als ein paar Jahrhunderte stehen bleibt, hält auch noch erheblich länger. Selbst der Kuppelbau der Hagia Sophia ist intakt.« Sie wischte sich über die Augen, dann
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