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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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»Ade.«
    Mrs Noyes schaute auf – beunruhigt. Ade?
    Aber bevor sie ihre Frage stellen konnte, war das Einhorn schon auf die Knie gesunken und von den Knien zur Seite ins Stroh, wo es einen langen Seufzer ausstieß – der aber, so vermutete Mrs Noyes, kein unglücklicher Seufzer war – und sein Leben aushauchte.
    Alle – Engel, Tiere und Menschen zugleich – neigten sich über den winzigen Körper, dessen Licht erlosch und den Stall wieder in die Dunkelheit zurückwarf.
    Das Einhorn war wahrhaftig tot. Es hatte gelebt, war gestorben und hatte wieder gelebt. Und war wieder gestorben. Und wie Luci sagen würde, es würde die ganze Ewigkeit mit Leben und Sterben verbringen. Eben wie Menschen, die sich an die Zeit erinnerten, als das Einhorn noch aus Fleisch und Blut war und im Wald am Fuße von Noahs Berg lebte, zurückkehrten oder nicht zurückkehrten – zurückkehren konnten oder nicht konnten – zurückkehren wollten oder nicht wollten.
    »Wenn du es lebendig machen konntest«, fragte Mrs Noyes, »warum konntest du es nicht am Leben erhalten?«
    »Ich könnte dich, Mutter Noyes«, sagte Luci, »bezüglich all deiner toten Kinder dasselbe fragen.«
    Luci saß im Stroh, verlagerte ihr Gewicht auf die Hüfte und stützte sich mit einer Hand ab; der Kopf des Einhorns lag noch immer auf ihrem Schoß. Mrs Noyes, deren Körper so erschöpft war, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, bewegte sich nicht. Sie stand da – einen Augenblick kerzengerade im Lichtkreis von Lucis Lampe, die dort beim Schafverschlag hing – und im nächsten Augenblick im Schatten, als die Arche weiterschaukelte und die Laterne hin- und herschwang.
    Mottyl, die sich jetzt Sorgen machte, weil sie ihre Kätzchen schon so lange allein ließ, versuchte sich ein Bild von der Szene um sich herum zu machen; ihr Geruchssinn und ihr Gehör halfen ihr dabei. Der intensive, süße Duft des Heus, das sanfte, sporadische Husten der Schafe, der luzerneträchtige Atem der nahen Kühe und die gedämpfte Verlagerung ihres Gewichts, wenn sie sich von der einen auf die andere Seite legten, der leicht störende Geruch des Weihrauchs an Krähes Schwanz und das immer gegenwärtige Geräusch des Regens sowie die Anwesenheit – irgendwo – von Mrs Noyes bildeten in Mottyls Vorstellung eine kreisrunde, in Finsternis getauchte Szenerie. Mitten in diesem Bild thronte die Gestalt Lucis – sie bestand aus Schwefel und raschelnder Seide, und aus der Erinnerung an ein langes weißes Gesicht, das so weit oben schwebte wie der Mond.
    Langsam, zunächst fast unhörbar, begann diese Gestalt, die in der Vorstellung einer blinden Katze schwebte und zugleich mitten in einem Stall saß, zu sprechen. Und ihre Stimme war keine Stimme, wie sie einer der Anwesenden jemals gehört hatte. Es war eine verdüsterte Stimme – in der eine Härte lag, die nicht zu der Frau passte, die sie gekannt hatten.
    »Vor langer Zeit«, sagte sie, »hörte ich an einem Ort, den ich fast vergessen habe, das Gerücht von einer anderen Welt. Von ganzem Herzen hatte ich den Wunsch – weil ich den Ort, an dem ich mich befand, verabscheute – diese Welt zu sehen. Ich wollte dorthin gehen, dort bleiben und dort leben. Da, wo ich geboren bin, standen die Bäume immer in der Sonne. Daran erinnere ich mich. An erbarmungsloses Licht. Es regnete nie – obwohl wir nie unter Wassermangel litten. Immer schönes Wetter! Langweilig. Ich wollte Stürme. Ich wollte Abwechslung. Und ich hatte also dieses Gerücht gehört… von einer anderen Welt. Und ich fragte mich – ob es dort regnete? Ob es dort vielleicht Wolken gab und Schatten? Ich wollte einmal an einem Platz stehen, wisst ihr, wo ich Wüsten und Schnee sehen konnte. Das wollte ich unbedingt. Ich wollte auch jemanden, mit dem ich mich auseinander setzen konnte. Jemanden, mit dem ich – nur einmal – anderer Meinung sein konnte. Und ich hatte dieses Gerücht gehört: von einer anderen Welt. Und ich fragte mich… könnte es dort Leute geben, in dieser anderen Welt, die mir sagen würden, der Himmel sei grün? Die sagen würden, trocken sei nass – und schwarz sei weiß? Und falls ich sagen sollte: ›Ich bin nicht ich – sondern der, der ich sein will!‹, würde man mir glauben – in dieser anderen Welt?…«
    Jetzt zog Luci ein Stück Watte aus ihrer Tasche und begann sich abzuschminken. Den ganzen weißen Puder – das ganze dunkle Rouge – die fein gezeichneten Augenbrauen und die Schwärze, die ihre Lider färbte.
    Trotz ihrer

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