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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Blindheit konnte sogar Mottyl spüren, dass etwas mit Luci geschah. Sie fühlte, wie die andere Luci gelöscht wurde, verschwand.
    »Eben vorhin, als das Einhorn starb und ich wusste, ich würde es nicht retten können – war ich zornig«, sagte Luci. »Warum sollte es so sein, dass das Leben nur denjenigen zurückgegeben werden kann, die an einem Ort aufgebahrt sind, wo es niemals regnet? Und wo es keinen Schatten gibt, sondern nur die Sonne? Warum sollte es nicht Leben für alle geben, ob mitten in Stürmen – oder wenn man sich versteckt, wie wir hier, in dieser Finsternis? Warum nicht?«
    Luci nahm ihre prächtige schwarze Perücke ab und legte sie beiseite. Das Gesicht unter dem vorigen Gesicht war fahl – fast grau. Der Mund war breiter und die Lippen voller, als Mund und Lippen gewesen waren. Die Nase war länger – spitzer – stärker –, teilte das Gesicht, das kantig und hart war: ein Gesicht, in dem kein Platz war für Lachen, nicht einmal für Lächeln. Darüber befand sich eine kurz geschorene Krone aus kupferfarbenen Haaren – und genau in der Mitte dieser Haare – eine weiße Strähne.
    Luci stand jetzt auf und legte das Einhorn – ganz sanft – behutsam – zur Seite.
    Sie machte die Bänder auf, die ihren Kimono gehalten hatten, löste die breite Schärpe um die Taille und trat aus diesem Gewand heraus – darunter war ein anderes – ihre Robe aus langen bronzefarbenen Federn.
    Ihre Größe schien jetzt noch größer und ihre Hände ohne Handschuhe noch riesiger.
    »Wir haben diese Reise zusammen angetreten. Und vor dieser Reise hörte ich ein anderes Gerücht – ihr nicht auch? – von einem anderen gelobten Land. Also – das hier ist jenes gelobte Land, meine Freunde. Das hier ist alles, was wir haben, und es ist gut möglich, dass es das einzige gelobte Land ist, das wir jemals kennen werden. Das Einhorn hat hier bereits sein Leben ausgehaucht. Und schaut – die Laterne flackert. Jeden Augenblick könnte auch sie ausgehen.« Sie hielt inne, dann fuhr sie fort: »Das hier ist ein Ort ohne Zauber. Alles, was zauberhaft und wundervoll war, wurde zurückgelassen – ertränkt – in meiner Welt, die vor eurer Welt existierte – und in eurer Welt, die vor dieser hier war…«
    Die Kerze – die einmal garantiert immer hatte brennen sollen – flackerte und erlosch.
    In die darauf folgende Finsternis hinein sagte Luci: »Dort, wo ich geboren bin, standen die Bäume immer in der Sonne. Und ich habe jenen Ort verlassen, weil er den Regen nicht duldete. Jetzt befinden wir uns an einem Ort, wo es keine Bäume, sondern nur Regen gibt. Und ich habe vor, diesen Ort zu verlassen, weil er das Licht nicht duldet. Irgendwo – irgendwo muss es einen Ort geben, wo Finsternis und Licht versöhnt sind. Also setze ich hier und jetzt ein Gerücht von einer weiteren Welt in Umlauf. Ich weiß nicht, wann sie zum Vorschein kommen wird – ich weiß nicht, wo sie sein wird. Aber – wie bei all den anderen jetzt vergangenen Welten – wenn sie fertig ist, habe ich vor, mich dorthin auf den Weg zu machen.«
    Und als wolle sie zeigen, dass sie jetzt schon dazu bereit war, stand Luci auf und ging.
    Einige – auch Mottyl – konnten den Luftzug spüren, als sie an ihnen vorbeischritt.
    »Nicht!«, sagte Mrs Noyes.
    Luci blieb stehen.
    »Warte einen Augenblick! Bitte…«
    Luci wartete.
    Mrs Noyes fummelte in ihren Taschen herum, wo sich eine Unmenge nützlicher Gegenstände befand: die Schnur, die Gummibänder, die Stofffetzen, die Haarnetze und Apfelkerne und Kerzenstümpfe…
    Alle hörten, wie das Streichholz angestrichen wurde – und nicht zündete.
    Sie warteten atemlos.
    Ein zweites Streichholz wurde angestrichen.
    Und zündete auch nicht.
    Und dann ein drittes – mit einer breiten, hellen Aureole, die – man stelle sich vor – den Geruch von Schwefel verströmte.
    Die Kerzenstümpfe wurden angezündet und von einer Hand zur anderen gereicht.
    »Auch wenn es tausend Jahre dauert – wir kommen mit dir«, sagte Mrs Noyes zu Luci. »Wo du auch hingehen magst.«
    »Jetzt«, sagte Luci und sie lächelte, »hast du angefangen die Bedeutung deines Zeichens zu verstehen.«
    Unendlichkeit.

 
     
     
    Buch Vier
     
     
    Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren
    auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel,
    über allem, was auf dem Erdboden wimmelt,
    … in eure Hände seien sie gegeben.
     
    Genesis 9,2

Eier, Milch und Butter waren mittlerweile Mangelware und auch der Käsevorrat war fast

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