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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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die mit seiner Kindheit zu tun hatte. »Man stelle sich vor: Du, ausgerechnet du, verlangst einen Krautkopf! Ach, das Geheul und das Geschrei und die zusammengeklemmten Zähne, wenn ich versucht habe, ein einziges Blatt in dich hineinzubringen! Ein Krautblatt – du hast es durchs Zimmer geschleudert! Und jetzt kommst du her und tust, als ob Kraut die Speise der Könige wäre und als ob du krepieren würdest, wenn du keins kriegst. Na – ich sage dir, Semmi« (ein Name, den er nicht ausstehen konnte, wie sie sehr wohl wusste), »von mir kriegst du kein Kraut! Ja, das ist das Einzige, was wir haben! Bist du etwa hierher gekommen um den letzten Bissen vom Mund deiner Mutter zu stehlen? Schäm dich! Schäm dich!«
    Sem fand keine Antwort, die er auszusprechen wagte, denn die unaussprechbare Antwort war ja – er war tatsächlich hierher gekommen, um den letzten Bissen aus dem Mund von irgendjemandem zu stehlen, sofern besagter Bissen eben Kraut war.
    Endlich fiel ihm eine Möglichkeit ein, zumindest etwas als Belohnung für seine Mühe zu ergattern. »Aber – es ist ja nicht für mich, Mama. Es ist für Hannah und das Kind.«
    Ach, dachte Mrs Noyes. Das Kind. Ja, ja – das Kind. Vor allem das Kind. In der Rangordnung der Bedürfnisse kamen zuerst die Ungeborenen, an zweiter Stelle die Neugeborenen. Und nichts durfte zwischen ihnen und dem Leben stehen.
    »Also gut«, sagte sie. »Du kannst einen Krautkopf und zwölf Stück Rosenkohl haben – aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass sie direkt in Hannahs Hände wandern.«
    »Ja, Mama.«
    Mrs Noyes ging hinüber und kramte tief im Sägemehl herum, wo Kraut und Rosenkohl lagerten; sie erschrak, als sie feststellte, wie wenig von beiden Sorten noch da war, kehrte aber mit den versprochenen Waren zurück.
    »Da hast du’s«, sagte sie kurz angebunden. »Ein Krautkopf, zwölf Stück Rosenkohl.«
    Der Ochs drehte sie in seinen riesigen Händen.
    »Sie sind nicht sehr groß«, sagte er.
    »Pech«, sagte Mrs Noyes.
    »Und da ist ein Wurm drin…!« Vor Entsetzen ließ Sem das Kraut fast zu Boden fallen. (Die Gefahr, Würmer zu finden, hatte vor langer Zeit seine Abneigung gegen Kraut verursacht.)
    »Gut«, sagte Mrs Noyes. »Das garantiert mir, dass das Kraut dort hinkommt, wo es hingehört – auf Schwester Hannahs Teller, nicht auf deinen.«
    Sem, der Ochs, kam danach nicht wieder zum Markt zurück. Da er selber keine Lust auf Kraut hatte und da es noch einen gewissen Vorrat an dem gab, wonach es ihn gelüstete – nämlich nach Trockenobst und Süßigkeiten –, war er damit zufrieden, in Noahs Speisekammer weiterzuschlemmen und sich ansonsten von den Nudeln und der Fischsuppe zu ernähren, woraus Hannahs Kochkünste fast ausschließlich bestanden. In seinen Freistunden – das heißt, in der Zeit, die nicht dem Essen gewidmet war – widmete Sem sich der Reinlichkeit seiner Kleidung. Er begann, seine Unterbekleidung zweimal pro Tag zu wechseln und bestand darauf, dass der Kragen seiner Tuniken gestärkt und seine gesamte Weißwäsche gebleicht wurden. Dafür war Emma zuständig. Für ihn selber blieb die anstrengende Arbeit der Körperpflege: sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen und ihn zu stutzen; seine dünner werdenden und an der Stirn ganz verschwindenden Haare zu waschen und endlos zu kämmen; seine lange vernachlässigten Zähne zu putzen und weiß zu machen, seine Nägel zu schneiden und mit Leder zu polieren. War all das erledigt, war er makellos sauber und glänzend und gestärkt, dann zwängte er seine massige Gestalt in den weichsten Sessel, den er finden konnte, starrte in den Raum und träumte von heißen Sommernachmittagen am Berghang und versuchte sich vergebens den Klang von zwanzig, dreißig, hundert Sensen und den Gesang ebenso vieler Bauernknechte in Erinnerung zu rufen. Weder dies noch den Geruch von frisch gemähtem Heu konnte er heraufbeschwören. Seine Erinnerungen waren unter den neuen Fettschichten seines Körpers unwiderruflich verblasst.
     
     
    Japeth kam an, mit Schweißtropfen in den Augen und in der Hand ein Schwert.
    Mrs Noyes wich nicht von der Stelle und sagte: »Ja? Was willst denn du?«
    Japeth stürzte an ihr vorbei, in Richtung Stall.
    Mrs Noyes lief hinterher.
    »Wie? Was ist?«, schrie sie. Das Ziel, das er anpeilte, versetzte sie in Panik. »Warum willst du dorthin?«
    Am Eingang zum Stall wandte sich Japeth gegen seine Mutter und sagte: »Geh zurück!«
    »Das werde ich nicht tun! Wie kannst du es wagen? Was

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