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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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erschöpft. All das war jedoch für Doktor Noyes’ bevorzugte Kost erforderlich. Und Schwester Hannah brauchte – weil schwanger – sowohl zusätzlich Obst und Gemüse als auch eine Extraportion Milch.
    Zuerst wurde Schwester Hannah mit einer Einkaufsliste hinuntergeschickt, um diese Lebensmittel zu besorgen. Ihren Weidenkorb am Arm und ihr Tuch über die Haare gebreitet kam sie an, als würde sie dem Lebensmittelhändler um die Ecke einen Besuch abstatten, nur dass sie jetzt keinen Beutel mit Münzen bei sich trug: nichts, das sie mit der Frage: Und wie viel macht das alles, Mrs Noyes? auf dem Ladentisch hätte ausschütten können.
    Mrs Noyes sagte: »Aber du hast erst gestern zwei Dutzend Eier gehabt …«, und »unsere Milch ist auch rationiert, weißt du. Und, was die Butter betrifft, ich habe keine Zeit zum Buttern gehabt. Vergiss nicht – wir haben zu wenig Leute, jetzt – wo ihr Emma genommen habt. Alles, aber auch alles, was sie hier gemacht hat, muss ich nun zusätzlich übernehmen. Übrigens – wo ich gerade dabei bin – hast du überhaupt eine Ahnung, wie schwer wir hier unten schuften? Was es heißt, all diese Tiere zu füttern? Jeden Tag, zweimal am Tag! Und du hast die Frechheit, hierher zu kommen und Butter zu verlangen! Schäm dich! Schäm dich!«
    Es sprach immerhin für Hannah, dass sie noch Scham empfinden konnte, auch wenn sie selbst es als Bescheidenheit bezeichnete. Was zweifellos zum größten Teil in der Angst begründet war, die sie heimsuchte – im unbehaglichen Bewusstsein, zu viel von ihrem Selbst gegen das eingetauscht zu haben, das ihr Sicherheit und Ansehen versprochen hatte. Dieses Unbehagen war wie ein zweites Kind in ihrem Bauch und verlagerte sich jedes Mal mit, wenn sie sich bewegte; schwebte jedes Mal neben ihr, wenn sie stehen blieb; lag jedes Mal mit ihr im Bett, wenn sie schlief. Und dennoch ließ Hannahs Ehrgeiz es nicht zu, irgendetwas von dem, was sie erreicht hatte, wieder aufzugeben; allerdings war sie mittlerweile so weit, dass sie sich wünschte – und zwar inbrünstig –, das, was sie erreicht hatte, in anderer Gesellschaft erreicht zu haben.
    Folglich stellte Hannah nach ein paar Tagen ihre Besuche ein, um für Noah und sogar für ihre eigenen Bedürfnisse Waren zu fordern. Sie begann vorzutäuschen, dass ihr Zustand den gefährlichen Gang über das offene Deck und die lange, steile Treppe zum Laderaum hinunter nicht mehr zuließ. Nun begann sie, sich auch für längere Zeit in ihre Kajüte zurückzuziehen, weil sie nachdenken und lesen wollte; sie sperrte die Tür zu, damit Sem nicht hineinkonnte, und – aus gutem Grund – auch Japeth und Noah nicht. Während dieser Tage kopierte sie am Rand von zwanzig verschiedenen Seiten in ihrem selbst gefertigten Heft folgendes Zitat aus dem Band mit Geschichten, der ihr als Einziger in ihrer Kajüte Gesellschaft leistete: Bei Gott, schrieb sie, wenn Frauen Geschichten geschrieben hätten, hätten sie mehr über die Lasterhaftigkeit der Männer geschrieben, als das ganze Geschlecht Adams wieder gutmachen kann.
    Und sie, die seit Menschengedenken nicht mehr geweint hatte, fing jetzt an zu weinen.
     
     
    Als Nächster kam Sem herunter, ohne Weidenkorb.
    Mrs Noyes grüßte ihn mit schockierter Miene, da sie – um ehrlich zu sein – ihren ältesten Sohn kaum erkannte. »Was hast du mit dir angestellt?«, fragte sie. »Bist du das da drin?« Und sie stupste ihn mit dem Finger – etwa an der Stelle, wo sein Nabel auf etlichen Schichten neu erworbenen Fetts trieb. »Du siehst krank aus, entschuldige, wenn ich das sage… ein gesunder Junge wie du, und kein Gramm Muskeln! Und wo ist deine Farbe hin? Und deine Haare fallen aus! Das ist ein Zeichen für unausgewogene Kost…« Hier biss sich Mrs Noyes auf die Zunge. Das Thema ausgewogene Kost war natürlich eine offene Tür, durch die der Ochs seinen ersten Wunsch lancieren konnte: »Grünes Gemüse, Mutter. Wir wissen, dass ihr so was habt – Kraut und Rosenkohl – und ich bin da, um es zu holen.«
    Mrs Noyes war entrüstet: »Kraut? Rosenkohl? Ich weiß nicht, wovon du sprichst… wieso denkt ihr, dass wir solche Leckerbissen haben? Kraut, ja! Aber Rosenkohl, dass ich nicht lache!«
    »Wir können es riechen, wenn du kochst«, sagte Sem. »Eigentlich kann ich es gerade jetzt riechen.«
    Mrs Noyes lief knallrot an.
    »Ach, ja…« Sie brauste auf. »Nur ganz wenig, und wirklich zum allerletzten Mal.« Dann hatte sie eine Idee und entgegnete ihm mit einer Schmähung,

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