Die letzte Geisha: Eine wahre Geschichte (insel taschenbuch) (German Edition)
Greis:
»Wenn die Menschen nur an sich selbst denken, sind sie am unglücklichsten. Einmal im Leben reicht schon, aber setz dich mal ganz für andere ein. Auf jeden Fall versuch mal, noch ein Jahr lang zu leben. Und in dem einen Jahr mach nur einmal einen anderen Menschen glücklich, und wenn du dann noch sterben willst, kannst du wieder herkommen. Dann helfe ich dir, auf angenehme Art zu sterben.«
Dieser Alte erzählte mir, daß er früher Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen, in Hokkaidō in ein Straflager gesteckt worden, dann ausgebrochen und umhergeirrt sei; aus Verzweiflung an dieser Welt habe er den Tod gesucht.
Er ließ mich hier die Nacht verbringen, und als ich anderntags das Haus verließ, schnatterte das Entenpaar, das er sich hielt, pausenlos, wohl von meinem ungewohnten Anblick alarmiert. Er sagte, er halte die Enten anstelle eines Wachhundes. Ich staunte, als ich erfuhr, daß auch Enten dressierbar sind und einen Hund ersetzen können.
Ein Weg zum Leben
Argloses Lächeln
Nach Toyoshina zurückgekehrt, bemühte ich mich um ein Leben unter Beherzigung der Worte des Alten, aber wenn ich daran dachte, daß ich, die ich mir selber nicht helfen konnte, wohl nichts zuwege bringen würde, befiel mich erneut nur eine ausweglose Verlassenheit.
Da sah ich eines Tages, auf dem Rückweg vom Arzt, wie Kinder zusammenhockten und vergnügt ein Märchenbuch betrachteten. Unwillkürlich dachte ich, daß Kinder es doch gut haben, und blieb stehen. Da fiel mir ein Junge auf, der abseits saß.
»Was ist denn mit dir?« fragte ich.
»Ich hab kein Buch, und da spielen die nicht mit mir«, sagte er und rannte weg. Danach vergaß ich die Sache, aber weil ich mir angewöhnt hatte, abends, wenn ich zu Bett gehe, vor dem Einschlafen der Seele meines Bruders eine gute Nacht zu wünschen, fiel mir auf einmal, als ich wie immer »Masaru, schlaf gut!« flüsterte, der Junge wieder ein, der kein Buch gehabt hatte. So war es sicherlich auch meinem Bruder ergangen, dem armen Kerl! Bei diesen Gedanken beschloß ich, dem Jungen ein Buch zu kaufen.
Am nächsten Tag kaufte ich ein Buch und ging dahin, wo die Kinder gestern waren, aber da war niemand. Weil ich Bücher und Filme noch nie gemocht habe, habe ich mir auch noch nie aus eigenem Antrieb derlei angesehen, aber dieses Bilderbuch war auch für mich interessant.
Um das Buch, das ich eigens gekauft hatte, auch loszuwerden, ging ich am folgenden Tag wieder hin, keine Menschenseele war da. Am vierten oder fünften Tag mag es gewesensein, da traf ich einen etwa achtjährigen Jungen, der so heulte, daß ihm der Rotz aus der Nase zum Mund hineinlief.
»Na, ist ja schon gut«, sagte ich, putzte ihm die Nase und hielt ihm dann das Buch hin.
»Da, das ist für dich!«
Der Bub hörte auf zu weinen und wich ein paar Schritte zurück. Ich drückte dem Kind das Buch einfach in die Hand und sagte:
»Das ist ein interessantes Buch!«
Da guckte er mich mit großen Augen an und strahlte. Sein Gesicht schien wirklich vor Freude zu glänzen. Mit heiterem Sinn ging ich nach Hause.
Als ich im Haus des Großgrundbesitzers das Kind hütete, habe ich einmal von einer vorbeikommenden Nonne etwas Viereckiges, Weißes bekommen. Als ich vorsichtig daran leckte, war es süß und schmeckte gut. Heute weiß ich, daß es ein Stück Würfelzucker war, aber damals war ich darüber so froh, daß ich mich bis heute, 20 Jahre später, noch deutlich daran erinnere. Menschen, und nicht nur Kindern, prägt es sich anscheinend lange ins Unterbewußtsein ein, wenn ihnen von anderen eine unerwartete Freude bereitet wird, und sie können es nicht vergessen. Falls auch das Kind heute, wenn es später erwachsen wird, meine Tat nicht vergessen sollte, mag es später vielleicht, wenn es ein weinendes Kind sieht, Lust bekommen, ihm liebevoll zuzureden und ihm die Nase zu putzen. Und wenn das Kind dann erwachsen wird, wiederholt sich das, und weil es kein schlechtes Gefühl ist, freundlich zu anderen Leuten zu sein, wächst ein Sinn der Fürsorge heran, und nach vielen hundert Jahren kommt womöglich eine Zeit, in der alle Menschen einander beistehen.
Wenn die häßliche Gesinnung der Menschen, Höhergestellte zu beneiden und Niedere zu verhöhnen, verschwinden undeine Welt entstehen würde, in der man jeden mit Liebe behandelt, wie angenehm wäre es, da zu leben!
Das ist's! Ich will, und wenn ich ihnen auch nur ein Bonbon gebe, die Kinder lehren, sich über die Gabe zu freuen und diese Freude anderen
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