Die letzte Hürde
scheint ganz auf meiner Linie zu liegen.“
„Wie meinst du das?“
Hannes hob lächelnd die Schultern. „Nun ja, mein Umgang mit Pferden ist auch, sagen wir, ein bißchen alternativ. Ich bin in den letzten beiden Jahren in England gewesen, um die Tellington -Jones-Methode der Pferde-Erziehung zu studieren. Später habe ich drei Monate bei einer Pferde-Therapeutin volontiert, die auch nach Linda- Tellington -Jones ausbildet!“
Bille blieb abrupt stehen. „Im Ernst! Das ist ein Wink des Schicksals, daß du jetzt hier zu uns gekommen bist! Was du machst, ist nämlich genau das, was ich mir für meine Zukunft vorstelle. Ich sehe schon, ich werde deine eifrigste Schülerin werden!“
„Ich freue mich, daß du das sagst. Allerdings wundert mich das nicht, eine Schülerin von Hans Tiedjen kann wohl gar nicht anders denken.“
Bille wurde ernst.
„Du hast recht, obwohl Daddy nicht immer so gedacht hat. Vor seinem Unfall kam es schon mal vor, daß er ein Pferd auf einem Turnier bis an seine Grenzen gefordert hat. Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern, als er zu mir darüber sprach. Ich war erst dreizehn, und ich fand es toll, daß er mich behandelte wie eine Erwachsene. Ich glaube, diesen Abend im Stall werde ich nie vergessen, wie wir da nebeneinander hockten und eigentlich alle beide traurig waren. He, da ist Johnny! Komm!“ unterbrach sie sich lebhaft und zog Hannes mit sich fort.
Johnny der Indianer war gerade dabei, einen großen Koffer vor die Tür zu stellen, dem man ein langes Reiseleben ansah. Er war aus grobem Rindsleder, ausgebeult und an den Ecken abgestoßen, dabei rundum mit Aufklebern aus allen Gegenden der Welt so zugepflastert, daß man eine gute Stunde benötigt hätte, um alle zu studieren.
„Ein echtes Museumsstück“, meinte denn auch Bille und betrachtete den Koffer bewundernd. „Johnny, du fährst schon los?“
„In einer halben Stunde. Will schnell noch meine Bude putzen. Frieder bringt mich nachher zum Bahnhof. Ein Freund von dir?“ Johnny musterte Hannes Horbach . „Willst du uns nicht bekanntmachen?“
„Ja, klar. Das ist Hannes Horbach , der neue Reitlehrer für die Internatsschüler. Hannes, das ist Johnny der Indianer!“ Es war auf den ersten Blick klar, daß die beiden Männer sich verstehen würden; dazu bedurfte es keiner Worte, Bille spürte es ganz einfach. Sie verabschiedeten sich bald, um Johnny nicht unnötig aufzuhalten, und Bille führte Hannes in den Schulstall, um ihm wenigstens einen Teil seiner zukünftigen Schützlinge vorzustellen.
„Tut mir leid, daß du hauptsächlich leere Boxen zu sehen bekommst“, sagte sie bedauernd. „Natürlich nehmen die Schüler ihre eigenen Pferde in den großen Ferien mit. Und Bobby, Regula und die beiden Isländer Lucky und Rumpelstilzchen haben schon ihr Ferienkurs-Quartier drüben im Reitclub Wedenbruck bezogen, die wirst du erst morgen kennenlernen. Dies hier ist Janosch, und daneben steht Natascha. Ist sie nicht eine Schönheit? Der hier ist unser Luzifer! Den haben wir erst tüchtig abspecken müssen, als er kam, er war unvorstellbar fett und gefräßig! Noch schlimmer als Zottel, mein Pony. Den wirst du später noch kennenlernen. Daneben ist die Rappstute Darling; sie muß im Augenblick geschont werden, hat sich bei einem Sturz im Training böse die Schulter geprellt.“
Hannes Horbach trat in die Box und begann, mit Darling zu schmusen. „Na sag mal, du machst ja Sachen! Bist immer noch total verspannt, das muß ein richtiger Schreck gewesen sein!“
Mit den Fingerkuppen begann er, die Stute hinter der Schulter in winzigen Kreisbewegungen zu berühren und leicht zu massieren. Er arbeitete sehr konzentriert, atmete bewußt ein und aus dabei, und Bille stellte erstaunt fest, wie auch Darling tiefer zu atmen begann und sich sichtlich entspannte. Schließlich ging Hannes dazu über, die gesamte Muskulatur des Pferdes durch sanftes Klatschen zu lockern.
„Sie genießt es!“ flüsterte Bille. „Einfach toll, wie du das machst! Das mußt du mir beibringen.“
Hannes verabschiedete sich von Darling mit einem letzten, zärtlichen Klaps und verließ die Box.
„Johnny wird froh sein, mit dir zusammenzuarbeiten. Da drüben, das sind übrigens seine Pferde“, berichtete Bille. „Es sind alte Zirkuspferde, die bei uns das Gnadenbrot bekommen.“
Hannes ging von einem Senioren zum anderen und hielt mit den Pferden, die nach der Abendfütterung satt und zufrieden in ihren Boxen vor sich hindösten, stumme
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