Die letzte Hürde
versuchte, so gut es ging, eine lässige Haltung anzunehmen, in der er à la Cowboy die Zügel locker in einer Hand hielt und sich stolz aufrichtete. Doch so rasant der Start gewesen war, so schnell war die Vorstellung auch wieder beendet. Peppino, auf der Wiese angelangt, suchte sich zielsicher die Stelle mit der würzigsten Mischung aus Halmen und Kräutern, riß ohne große Mühe Joe die Zügel aus der Hand und begann zufrieden zu grasen. So sehr sich sein Reiter auch bemühte, der Wallach war nicht dazu zu bewegen, den Kopf wieder hochzunehmen, geschweige denn, einen Schritt weiterzugehn .
Inzwischen hatten sich immer mehr Zuschauer eingefunden, man tuschelte und lachte, einige kannten den Fahrlehrer aus Neukirchen und steckten grinsend die Köpfe zusammen. Joes Gesicht nahm allmählich die Farbe einer überreifen Waldhimbeere an.
„Er will nicht! Was soll ich jetzt machen!“ rief er Bille verzweifelt zu. „Das ist vielleicht ein blöder Gaul!“
„Tja, Reiten und Fahren sind zweierlei“, kommentierte Bille Joes verzweifelte Versuche, Peppino doch noch zum Weitergehen zu bewegen. „Zügel aufnehmen, mit dem Po fest in den Sattel setzen und mit den Schenkeln antreiben. Aber mit Gefühl, Süßer, mit Gefühl!“
Das Publikum, soweit es den schönen Joe kannte, schrie begeistert auf. Joe bemühte sich, Billes Anweisungen zu folgen, doch Peppino ließ sich davon kaum beeindrucken. Wenn er fraß, dann fraß er, basta. Schließlich erbarmte sich Bille und schritt quer durch das hohe Gras zu ihm hin. Sie nahm Peppino am Zügel und führte ihn von der Wiese zurück zum Transporter. Der Wallach spazierte gehorsam neben ihr her, als sei nichts geschehen.
Nur Joe machte einen kläglichen Eindruck, das Erlebnis hatte ihm offensichtlich die Sprache verschlagen. Wie ein Dreijähriger hockte er mit hängenden Schultern schaukelnd auf dem Pferd und grinste nicht besonders intelligent ins erheiterte Publikum. Fast tat er Bille leid.
Joes Anbeterin nahm kein Blatt vor den Mund. „Mann, siehst du dämlich aus da oben!“
„Was heißt hier dämlich?“ verteidigte Bille ihren Fahrlehrer. „So was kommt vor, manchmal läuft eben ohne Abschleppen gar nichts mehr!“
„Genau!“ Damit schwang sich Joe mit einem Rest männlicher Würde aus dem Sattel.
Liebeskummer
Als Bille an diesem Abend nach Groß-Willmsdorf zurückkehrte, hatte sie viel zu erzählen. Nicht nur ihren Sieg mit Peppino und das Erlebnis mit Joe, nein, auch Mirko hatte mit Lolita gut abgeschnitten und zwei Placierungen erreicht. Anke hatte im L-Springen einen vierten Platz belegt und Rita die Placierung nur ganz knapp verfehlt. Es war ein erfolgreicher Tag gewesen. Und dann war da noch etwas Besonderes: das Ehepaar Brauner, das für seine Tochter Anja unbedingt die Stute Olympia kaufen wollte.
Bille stürmte nur so von Neuigkeiten übersprudelnd die Treppe zur Terrasse hinauf, daß sie zunächst den Besuch, der Hans Tiedjen gegenübersaß, gar nicht bemerkte. Als sie sich dessen bewußt wurde, brach sie ihren Redeschwall erschrocken ab. „Oh, bitte entschuldigen Sie, ich bin so unhöflich! Ich habe Sie gar nicht bemerkt!“
„Aber das macht doch nichts!“ unterbrach sie der junge Mann und sprang auf, um ihr die Hand zu schütteln. „Das kann ich voll verstehen! Darf ich mich vorstellen? Ich bin Hannes Horbach , der neue Reitlehrer fürs Internat!“
„Und das ist unsere Bille!“ Auch Hans Tiedjen war aufgestanden und hatte Bille seinen Arm um die Schultern gelegt. „Genauer: Sibylle Abromeit. Sie ist fast meine Adoptivtochter und das wichtigste Mitglied meines Teams.“ Das war zwar übertrieben, fand Bille, aber sie freute sich jedesmal, wenn er es sagte. Sie war sogar ein bißchen rot geworden, zum Glück sah man es ihrem braungebrannten und von der Arbeit erhitzten Gesicht nicht an.
„Setz dich! Frau Engelke wird gleich noch eine Tasse und frischen Tee bringen. Wir haben dir sogar Kuchen übriggelassen, stell dir vor!“ scherzte Tiedjen.
„Super, Daddy, das werde ich dir nie vergessen!“ Bille genoß es, ihn vor Fremden wie einen Vater anreden zu dürfen.
Sie setzten sich, und Bille stürzte sich sofort mit Heißhunger auf den saftigen Stachelbeerkuchen. Hannes Horbach schob ihr lächelnd die Schüssel mit der Schlagsahne zu. Während die beiden Männer miteinander sprachen, musterte Bille den neuen Reitlehrer des Internats unauffällig. Er sah gut aus, das mußte sie zugeben. Dunkelblondes Haar, das sich mit vielen Wirbeln gegen
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