Die letzte Jungfrau ...
versuchte, die anderen von Sam abzuhalten, wandte sich ihr zu und wurde brennend rot. “Annie, du solltest …” Er wies auf ihr Kleid.
Sie blickte an sich herunter und hielt sich dann sofort das Oberteil über der Brust zusammen. Gegen den staubigen Handabdruck auf dem weißen Stoff konnte sie allerdings nichts tun. “Ich schwöre, dass nichts passiert ist.”
Sam lachte gequält. “Davon wirst du sie niemals überzeugen”, sagte er und klopfte sich den Staub ab. “Nicht wenn du so aussiehst wie jetzt und außerdem die ganze Nacht allein mit mir im Bootshaus verbracht hast.”
“Deswegen brauchen wir noch lange nicht zu heiraten”, sagte Annie trotzig.
Sechs Gewehre wurden auf Sam gerichtet. “Ich fürchte doch”, widersprach er ihr sanft. “Wie es aussieht, gibt es heute entweder eine Hochzeit oder ein Begräbnis — und Ersteres wäre mir lieber, falls du keinen stichhaltigen Einwand hast.”
“Aber es ist wirklich nichts passiert”, wiederholte Annie.
Sheriff Rawling sah sie zweifelnd an. “Willst du behaupten, ihr beiden habt nur dagesessen und geredet? Die ganze Nacht lang?”
“Nein, wir haben auch geschlafen”, erwiderte sie.
“Und uns geküsst”, fügte Sam hinzu.
“Aber das war wirklich alles”, bekräftigte Annie.
“Na ja … nicht ganz.” Er lächelte selbstgefällig. “Als Gentleman plaudere ich natürlich keine Einzelheiten aus.”
“Oh, das ist alles so absurd!”, rief sie.
Bürgermeister Pike schüttelte den Kopf. “Gib es auf, Annie. Letztes Mal auf Point Doom haben wir euch beide noch ungeschoren davonkommen lassen, aber dein Kleid ist ein ausreichender Beweis dafür, dass es letzte Nacht zu allerhand Intimitäten gekommen ist. Ben, geh in den Ort und bring den Standesbeamten auf Trab”, wies er seinen Freund an. “Er soll eine Heiratsbewilligung ausstellen, damit der Pfarrer die beiden trauen kann.”
“Ich heirate niemand!”, protestierte Annie, aber keiner hörte auf sie.
Bertie zog sie beiseite. “Knöpf dir das Kleid zu. Wir wollen nur dein Bestes, und das weißt du. Du möchtest Sam Beaumont zum Ehemann — schon seit deinem sechsten Lebensjahr. Und denk mal daran, wie viel Gutes der Stadt daraus erwächst: Wenn er dich bekommt, wird er niemand sonst ruinieren.” Er zog einen Kamm aus der Tasche. “Möchtest du dich nicht frisieren?”
Sie war mit den Knöpfen beschäftigt. “Nein, das möchte ich nicht.”
“Ehrlich gesagt, Annie, dein Haar ist ziemlich zerzaust. Möchtest du nicht doch …”
Wütend schlug sie seine Hand weg. “Warum ist jeder so eifrig damit beschäftigt, mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe?”
Bertie zuckte die Schultern. “Du hast uns jahrelang Vorschriften gemacht. Jetzt sind wir an der Reihe.”
“Ich möchte nach Hause. Bitte, Bertie, sei ein guter Kamerad”, bat Annie schmeichelnd. “Bring mich zu Myrtle.”
“Das muss — wie ich fürchte — bis nach der Trauung warten.”
“Nein, ich will sofort nach Hause!” Sie sah ihn einschüchternd an, aber zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, funktionierte es nicht.
“Tut mir leid, Annie. Der Sheriff hat mir aufgetragen, dich direkt in die Kirche zu bringen.”
“Darf ich mich vorher nicht mal umziehen?”, fragte sie empört.
“Du siehst doch prima aus.” Das war eine ziemlich klägliche Lüge, und Bertie wusste es.
Annie seufzte. “Na gut, ich gehe mit dir in die Kirche. Das heißt aber nicht, dass ich irgendjemand heirate.”
“Dir bleibt, meiner Meinung nach, keine andere Wahl. Du bist doch eine Delacorte, und alle erwarten, dass du das Richtige tust. Vor allem du, Annie!”
Und damit war alles gesagt. Ihre Versuche, nicht länger als ‘wahre Heilige’ angesehen zu werden, zählten nicht. Sie war in den Augen der anderen nun mal eine Delacorte, der Ehre und Anstand wichtiger zu sein hatten als alles andere. Natürlich konnte sie noch immer verkünden, wie es in Wahrheit um sie stand — aber das durfte sie nicht tun, weil das Geheimnis nicht sie allein betraf. Also gab es nur noch die Möglichkeit, vor dem Altar Nein zu sagen. Damit würde sie Sam in aller Öffentlichkeit demütigen, aber was blieb ihr anderes übrig?
Zu ihrer großen Erbitterung ließ man Annie keine Zeit, ihre Zustimmung zu verweigern. Sie wurde in die Sakristei geführt, und man reichte ihr den Antrag für die Heiratsbewilligung, den jemand schon ausgefüllt hatte. Sie brauchte ihn nur noch zu unterschreiben. Da Rolly, Ben und der Bürgermeister drohend neben
Weitere Kostenlose Bücher