Die letzte Jungfrau ...
befangen an. “Könnten Sie uns noch eine Minute Zeit lassen?”
“Sie hatten letzte Nacht Zeit genug, Annie.”
“Ich weiß. Ich hätte Sam bei dieser Gelegenheit alles sagen sollen, aber … Bitte, Sam, es dauert nicht lange.”
Zuerst glaubte sie, er würde sich weigern zuzuhören, dann nickte er und ging mit ihr beiseite. “Dann sag es endlich.”
“Dad hat vor seinem Tod einen Brief geschrieben und bei seinem Anwalt hinterlegt, der ihn meinem Verlobten geben soll, falls ich mich verlobe.” Schüchtern blickte sie zu ihm auf. “Den Schritt haben wir allerdings übersprungen.” Ihr Versuch, einen humorvollen Ton anzuschlagen, scheiterte kläglich.
“Was steht in dem Brief?”
“Das weiß ich nicht.” Allerdings ahnte sie es. “Wenn du es liest, wirst du mich aber nicht mehr heiraten wollen, dessen bin ich mir sicher. Wenn der Anwalt von unserer Hochzeit hört, erscheint er bestimmt sofort bei dir und händigt dir den Brief aus, obwohl du ja dann mein Ehemann bist und nicht mein Verlobter.”
“Nichts könnte mich davon abhalten, dich zu heiraten, Annie.”
Doch, etwas gab es, und das wusste sie seit nunmehr sieben Jahren. Es hatte ihr seitdem keine Ruhe gelassen. “Verflixt noch mal, Sam, ich möchte nicht heiraten, nur um sofort wieder geschieden zu werden.”
“Genug jetzt, Annie. Wir lassen uns trauen, und eine Scheidung wird es nicht geben.”
Sie wischte sich Tränen von den Wangen. “Schön! Sag dann aber nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.”
Er umfasste ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. “Gut, ich bin gewarnt. Ich heirate eine Frau mit einer purpurroten Strähne im Haar, einer Narbe am Nabel und einem dunklen, schrecklichen Geheimnis. Da ich aber einer der bösen Beaumonts bin, macht mir eine skandalöse Ehefrau nichts aus.”
“Aber von Sankt Annie erwartet man keinen Skandal”, flüsterte sie bedrückt. “Wenn du mich heiratest, wird man dich hier nie respektieren.”
“Das wird ja immer rätselhafter. Ich freue mich schon darauf, den Brief zu lesen. Wahrscheinlich beantwortet er mir viele Fragen.”
Ihre Lippen bebten unkontrollierbar. Sie durfte ihm das Geheimnis nicht verraten, denn es stand nicht nur ihr guter Ruf auf dem Spiel. “Es tut mir so leid, Sam, dir wehzutun. Ich habe das nicht gewollt.”
“Das weiß ich. Es kommt alles in Ordnung, Annie. Du wirst schon sehen.” Er hielt ihr die Hand hin. “Bereit?”
Sie gab es auf, weiter zu widersprechen, denn es würde ohnehin nichts ändern. Das Schicksal musste seinen Lauf nehmen, und in der Zwischenzeit blieben ihr vielleicht einige kostbare Tage als Sams Frau. Bertie hatte recht gehabt, sie hatte sich schon seit undenklichen Zeiten gewünscht, Sam zu heiraten. Schweigend legte sie die Hand in seine und ging mit ihm zum Altar zurück.
“Ist jetzt alles geklärt?”, erkundigte sich der Pfarrer.
“Ja, Hochwürden”, antwortete Annie leise. Sie wünschte sich sehnsüchtig, sie würde ein seidenes Brautkleid und weiße Schuhe tragen, dann würde sie Sam nicht zur Schande gereichen. Wegen ihrer Sturheit stand sie nun allerdings in einem zerdrückten Baumwollkleid da, mit staubigen nackten Füßen in den bequemen Sandaletten, und ihr Haar war völlig zerzaust. Ihr Gesicht war bestimmt von Staub und Tränen verschmiert. Ja, Sam hatte sich mit ihr eine schöne Bescherung eingehandelt.
“Und du, Samuel?”, fragte der Pfarrer. “Bist du hier aus eigenem, freiem Willen?”
Sam hob die Hände hoch. “Absolut, Hochwürden.” Wieder erklang Gelächter von den Bänken her. “Meine bedauernswerte Braut musste erst zur Trauung überredet werden. Ich habe schon mit zwölf Jahren geplant, sie eines Tages zum Altar zu führen.”
Ja, das war an ihrem sechsten Geburtstag gewesen. Annie erinnerte sich genau daran. Sam war uneingeladen auf der Party erschienen, und während ihre Freundinnen sich vor ihm versteckten, hatte sie ihm die Stirn geboten. Das gefiel ihm. Er lachte, und in dem Augenblick verlor sie ihr Herz an ihn, weil seine dunklen Augen mutwillig funkelten und sein Lächeln selbst den hartherzigsten Menschen bezaubert hätte.
Sam nahm sich das Stück Kuchen von ihrem Teller, dann beugte er sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: “Wir werden mal heiraten, Prinzessin. Wart’s nur ab!” Danach ließ er eine ihrer langen Locken durch die Finger gleiten und sah dabei aus, als hätte er eine erstaunliche Entdeckung gemacht.
In dem Augenblick erschien ihr Vater, riss Sam von ihr weg und versetzte ihm
Weitere Kostenlose Bücher