Die Letzte Liebe Meiner Mutter
haben, aber sich für Innovationen zu fein waren, und die jetzt mit ’ner Decke um die Schultern in der Nieuwstraat sitzen und betteln!«
»Da sieht man«, ergänzte Wannes, »dass Selbstzufriedenheit nur allzu oft zu Stillstand führt.«
Offenbar hatte er ein Talent zum routinierten Führen leerer Gespräche, eine Kunst, die sonst eher von Frisören und Wirten gepflegt wurde. Martine warf ihm einen bewundernden Blick zu. Selbstzufriedenheit führt allzu oft zu Stillstand – meine Herren! Doch der Senior ging auf Wannes’ Wandspruch nicht ein, in einem Monolog musste man schließlich immer drei Absätze vorausdenken und durfte sich von nichts und niemandem ablenken lassen.
»… Aber nicht nur die Medizin bringt uns nach und nach an den Rand des Ruins, es ist auch der Snobismus der Leute. Heutzutage müssen die ja mindestens den Flieger nehmen, damit sie zufrieden sind. Ein Bus ist nur noch was für Idioten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Von den Wasserfällen von Coo oder dem Löwen von Waterloo will der Tourist nichts mehr wissen, für ihn sind das bloß noch langweilige Schulausflüge. Mindestens nach Spanien muss es heut gehen! Und sollten Sie denken, dass jetzt in der Krise unsere, zugegeben, bescheideneren Reisen, wie zum Beispiel ›Vier Tage an die Mosel‹ oder ›Unter der Woche in die Vogesen‹, dass gerade die jetzt besonders gut laufen müssten – und seien wir ehrlich, es ist Krise, wenn wir schon fünfunddreißig Dollar fürs Fass iranisches Rohöl hinblättern müssen, Junge, Junge, wo soll das noch enden, wo soll das alles noch enden … –, aber Pustekuchen, nichts! Grad in der Krise gibt’s immer welche, die zeigen müssen, dass das alles sie nichts angeht, und die steigen dann in den Flieger.«
Martine trug keine Armbanduhr, seit ihr vom Schweißgeruch unter dem Lederband übel wurde und sie das zugehörige Jucken nicht mehr ertrug, aber jetzt hätte sie gern eine gehabt, um einen demonstrativen Blick darauf zu werfen.
»Wie gesagt, Innovation, das heißt, immer am Ball bleiben! Wussten Sie, dass die auf dem Genfer Autosalon dieses Jahr erzählt haben, die Reisebusse der Zukunft hätten Fernseher als Standardausrüstung? Können Sie sich das vorstellen? Fernsehen im Bus? Fernsehen! Der Individualismus triumphiert, die Laxheit regiert. Aber wenn die Leute eine Folge von Home Is Where My Children Cry verpassen, wollen sie nicht mehr in Urlaub, und wir können uns mit dem Styroporbecher neben die anderen in die Nieuwstraat stellen und mitbetteln. Sie können das traurig finden, können sagen, wir bereiten den Weg zu einer asozialen Gesellschaft, aber wir müssen mit der Zeit gehen, wie kalt und egoistisch die einem auch immer vorkommen mag: sich wandeln oder untergehen – Innovation und nochmals Innovation! In ein paar Jahren können Sie auch mit unseren Bussen an den Gardasee oder Gott weiß wohin fahren und unterwegs Home Is Where My Children Cry gucken. Wir bringen Sie ans andere Ende der Welt, und Sie brauchen keine Folge Ihrer Lieblingsserie zu verpassen!«
»Toll!«, stieß Martine, endlich wachgerüttelt, bei dieser Mitteilung hervor. Eigentlich eher ein Wort aus dem Vokabular ihres Sohns. Toll. Rotznasenjargon.
»Na, eh ich Sie noch länger mit meinem Geschwätz aufhalte: Hatten Sie schon Zeit, sich über Ihr eventuelles Reiseziel Gedanken zu machen?«
»Wir hatten eigentlich an den Schwarzwald gedacht«, bekannte Wannes, der netterweise die erste Person Plural benutzte.
»Aha! Schwarzwald! Der Himmel auf Erden, sage ich Ihnen! Mit zwanzig Jahren Erfahrung in der Region können Sie uns dafür ruhig Marktführer nennen. Wie für Sie gemacht, glauben Sie mir!«
Das war der Moment für Martine, ihre heikle Frage zu stellen, jetzt, solange sie noch zurückkonnte.
»Aber ist es da nicht zu kalt?«
»Zu kalt?«
»Ja, zu kalt. Wenn wir schon mal in Urlaub fahren, wollen wir wenigstens nicht dasitzen und bibbern oder nass werden, und Deutschland gilt doch nicht grad als ein Land, wo man sich einen Sonnenbrand holt, nicht wahr?«
»Zu kalt, sagen Sie? Gnädige Frau, im Schwarzwald wachsen Bananen, schlagen Sie mir den Kopf ab, wenn’s nicht wahr ist. Sie werden’s mit eigenen Augen sehen: Auf einer Insel im Bodensee hängen die in Stauden wie Kronleuchter über Ihrem Kopf! Die können Sie im Leben nicht aufessen, so viele sind es. Ist es da dann zu kalt, was meinen Sie?«
»Und das Deutsch? Wissen Sie, keiner von uns beiden spricht die Sprache, und was haben wir da zu
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